Einsichts-Dialog. Gregory Kramer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gregory Kramer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783867812474
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sozialer Ablehnung fürchten. Diese Gefühle werden jeden Moment neu konstruiert. Sie sind nicht dauerhaft, sondern werden ständig re-konstruiert. Das ist der Schlüssel. Wenn die Gedanken „Ich bin unterlegen“, „ich bin unfähig“, „ich bin minderwertig“ als mentale Bilder einmal konstruiert sind und als körperliche Empfindung gefühlt werden, halten wir an ihnen fest und glauben an sie, als ob sie stabil und dauerhaft wären. Wir merken nicht, dass wir sie die ganze Zeit neu erschaffen. Wenn uns klar wird, dass wir die Wahl haben, ob wir jeden Moment diese Konstruktionen erneuern wollen oder nicht, fühlen wir uns vielleicht einen Moment lang nackt – ohne unsere gewohnten Schutzmechanismen –, aber wir werden auch in die Lage versetzt, für uns selbst und andere in der Gegenwart präsent zu sein. Dieses eine Mal rennen wir nicht vor dem Dasein weg.

      Achten Sie auf die typischen Momente, wo Sie sich mit anderen vergleichen, und beginnen Sie diese Vergleiche mit freundlicher Neugier zu beobachten. Achten Sie darauf, welchen Effekt dieses Vergleichen auf Ihr Bewusstsein oder auf Ihre Fähigkeit hat, für andere präsent zu sein.

      Denken Sie an eine(n) Bekannte(n), die/der schüchtern ist oder sich engem zwischenmenschlichem Kontakt entzieht. Denken Sie an diesen uralten Hunger und lassen Sie Mitgefühl aufkommen.

      Achten Sie darauf, was Sie fühlen, wenn Sie in irgendeinen privaten Bereich zurückkommen – wenn Sie die Tür zu Ihrem Zimmer oder Büro zumachen, nach der Arbeit ins Auto steigen oder die Kinder zur Schule geschickt haben. Ist da ein Gefühl der Flucht? Achten Sie genau auf diese Gefühle, ohne sie zu verurteilen, und schauen Sie, ob Sie zu fassen bekommen, vor wem oder was Sie da flüchten.

      Diese drei Arten des Hungers existieren nicht isoliert voneinander; wie chemische Elemente finden sie sich fast immer in einer Verbindung. Sie vermischen sich, wechseln sich ab und ernähren sich gegenseitig. Der Hunger nach Lustgewinn, zusammen mit der darin angelegten Angst vor Schmerz, ist die Grundlage der beiden anderen Arten von Hunger – nach Dasein und nach Nicht-Sein. Ob wir nach Lustgewinn hungern oder danach, gesehen zu werden oder aber dem Blick zu entfliehen, wir ersehnen angenehme Gefühle. Ein Viertklässler reißt vor der ganzen Klasse einen Witz, weil das Gesehen-Werden sich angenehm anfühlt; ein anderer schreckt davor zurück, vor anderen zu sprechen, weil es sicherer scheint, die kritischen Blicke der Klassenkameraden zu vermeiden – weil das sich angenehm anfühlt. Solche Glücksgefühle sind relativ und voller Anspannung, aber oft sind sie das einzige Glück, das wir kennen. Wir tun unser Bestes, unsere Sehnsüchte zu befriedigen.

      Genauso wie die drei Arten zwischenmenschlichen Hungers nicht voneinander isoliert existieren, existieren sie auch nicht isoliert von den persönlichen und physischen Hungergefühlen. Der Zusammenhang zwischen Einsamkeit und Essen ist wohlbekannt. Ein Retreat-Teilnehmer berichtete, er habe sich während des Retreats nicht hungrig gefühlt, aber während der Heimfahrt sei der Hunger wieder aufgetaucht. Durch die zwischenmenschliche Praxis beruhigt, verringerten sich im Gleichschritt auch seine physischen und beziehungshaften Hungergefühle – und kamen im Gleichschritt wieder zurück. Die Lust auf sexuelles Vergnügen ist verflochten mit dem Hunger nach zwischenmenschlichem Vergnügen und normalerweise mit dem Hunger, gesehen zu werden. Der Hunger nach physischem Lustgewinn durch Alkohol oder Drogen geht, bei Partys und Sportveranstaltungen, oft einher mit der Lust auf zwischenmenschliche Stimulation und Vergnügen. Der Lustgewinn durch Rauschmittel hängt auch eng zusammen mit dem Hunger, persönlichem und zwischenmenschlichem Schmerz zu entfliehen: „Ich trinke, um meine Probleme zu vergessen.“ Während der Drang wächst, dem Schmerz zu entfliehen, steigert sich die grundlegende Sehnsucht, nicht mehr zu sein.

      Der Hunger, gesehen zu werden, und der Hunger zu fliehen können sich sehr schnell abwechseln. Eine Meditierende schrieb über ihre Erfahrungen bei einem anderen Einsichts-Dialog-Retreat Folgendes: „Ich sagte zum Beispiel vielleicht: ‚Schau mich an! Schau mich an!‘ und wenn mich Leute dann wirklich anschauten, sagte ich: ‚Okay, das reicht jetzt. Hört auf!‘ Ich wollte die Anerkennung, aber dann hatte ich Angst davor.“ Der Hunger, gesehen zu werden, und der Hunger zu verschwinden gingen in ihr auf und ab wie eine Schaukel. In ähnlicher Weise erlebte eine Frau bei einem Retreat in der Schweiz bei jedem Schritt der Gehmeditation eine Art existentieller Krise: „Jeder Schritt, den ich machte, schwankte zwischen dem Hunger nach Dasein und dem Hunger nach Nicht-Sein.“ Sie war eine erfahrene Meditierende, und mit ihrer verfeinerten Achtsamkeit und Konzentration war sie fähig, die existentielle Krise an der Basis ihrer Existenz in der Gesellschaft zu erkennen. Zum Glück half ihr genau diese Achtsamkeit, präsent zu bleiben und diesen doppelten Hunger zu akzeptieren.

      Der Hunger nach Dasein und der Hunger nach Nicht-Sein können sich auch langsamer abwechseln, manchmal auf sehr banale Weise. Aus ihrem Auf und Ab braut sich manches Drama zusammen. Ein Retreat-Teilnehmer fühlte sich durch die Kritik eines anderen falsch verstanden und abgewertet und saß mit dem Gefühl, minderwertig und unfähig zu sein, in unserem Kreis. Eine kritische Bemerkung wurde fast zum Dreh- und Angelpunkt für sein ganzes Retreat. „Am Anfang des Retreats hatte ich mich ganz schön aufgeblasen“, schrieb er, „dann schrumpfte ich zusammen.“

      All diese Hungergefühle erlebt jeder; sie dominieren sehr effektiv unser konditioniertes Leben. Sie reduzieren auch unsere Empfänglichkeit gegenüber anderen. Der Hunger nach Gesehen-Werden richtet sich nach außen und sucht dort nach Anerkennung. Der dadurch motivierte Mensch ist besessen von dem Verlangen, bewundert und als ein Selbst bestätigt zu werden, und ist deshalb für andere nicht zugänglich. Der Hunger zu fliehen zieht sich nach innen zurück. Der dadurch motivierte Mensch ist besessen von dem Bedürfnis, das Selbst zu verteidigen und zu schützen und ist damit viel zu sehr beschäftigt, um für andere noch zugänglich zu sein. Beide Arten des Hungers produzieren eine überhebliche Egozentrik oder Selbstherrlichkeit, die unfähig macht, den Schmerz von anderen wahrzunehmen, und die daran hindert, Liebe zu geben und zu empfangen. Grundlage beider Hungergefühle ist das Gefühl, minderwertig zu sein, und Isolation ist das Resultat. Der Hunger, gesehen zu werden, und der Hunger, sich zu verstecken, beruhen beide auf dem fundamentalen Hunger, sich Lustgewinn zu sichern und Schmerz zu vermeiden. Alle diese Hungergefühle beruhen auf einem bestimmten Selbstkonzept; sie sind der Kern, um den sich das Selbst konstelliert. Alle vernebeln sie unsere natürliche Fähigkeit zu Freude und Mitgefühl.

      Die Energie hinter Gier, Hass und Verblendung

      Die Hungergefühle treiben den Herz-Geist an; sie konditionieren aufsteigende Gedanken und die Handlungen, die sich aus diesen Gedanken entwickeln. Die Hungergefühle sind wie Gezeitenströme, riesige Naturerscheinungen, und auf diesen Gezeitenströmen steigen Gedanken auf wie Wellen im Meer. In jedem Moment kann ein Hungergefühl das Denken dazu bringen, das an sich zu ziehen, was es will, und das festzuhalten, was es bereits gepackt hat. Dies wird normalerweise durch angenehme Kontakte ausgelöst. Im nächsten Moment neigt der Geist vielleicht dazu, alles wegzuschieben, was immer ihn berührt. Dies wird normalerweise durch unangenehme Kontakte ausgelöst. Wenn ein Kontakt weder angenehm noch unangenehm ist, ignoriert ihn der Geist in stumpfer Indifferenz. Diese drei Tendenzen – Herziehen, Wegschieben und Übersehen – sind die Werkstatt, in der Moment für Moment das Leiden geschmiedet wird.

      In allen seinen Lehren bezog sich der Buddha auf diese drei Tendenzen und benutzte dabei Wörter seiner eigenen Sprache: lobha, dosa und moha. Diese werden normalerweise übersetzt als „Gier“, „Hass“ und „Verblendung“.

      Was denkt ihr, Kalamer? Wenn Gier, Hass und Verblendung in einem Menschen aufsteigen, gereicht ihm das zum Wohlergehen oder zum Schaden?18

      Dies sind keine zufälligen Eigenschaften. Im Gegenteil, dies Ziehen, Schieben und nebulöse Nichtbeachten sind fundamentale Wurzeln des Denkens, so fundamental wie Plus, Minus und Null in der Mathematik. Ihre entsprechenden Gegenstücke – heilsame Wurzeln – sind Nicht-Gier, Nicht-Hass und Nicht-Verblendung. Gedanken haben je nach der Wurzel, aus der sie hervorgehen, spezifische Qualitäten und vorhersehbare Resultate. Wenn die Wurzel unheilsam ist, bringen uns die ihr entwachsenden Gedanken und Handlungen Leiden.

      Der Dinge an sich ziehende Geist von lobha blüht zu Gier und Lust auf. Er kann aus dem Hunger nach Lustgewinn entstehen. Wir wollen etwas Angenehmes schmecken, ein gieriger Gedanke entsteht und wir holen uns den Schokoriegel; wir wollen ein angenehmes