Der Hunger nach Dasein und die mit ihm verbundene Angst vor dem Nicht-Sein können auch zwischenmenschliche Gier entstehen lassen. Der Drang, gesehen zu werden, führt oft zu einem Taktieren, wie wir sichtbar werden könnten. Wir gieren vielleicht nach Bekanntheit und schmieden Pläne, wie wir sie realisieren könnten. Jeder kleine Gedanke in einem solchen taktierenden Denken hat die Qualität, etwas an sich zu ziehen und an der erwünschten Sichtbarkeit festzuhalten. Solch ein Denken sammelt gierig soziale Möglichkeiten – Freunde, Bekannte, Mitgliedschaften, Gesprächsthemen, Witze, Belanglosigkeiten aus dem Sport oder den Medien – und benutzt sie, um die eigene Prominenz auszustaffieren. Solch ein Denken kann sehr subtil sein, und das An-sich-Ziehen von Bestätigung kann sehr klug mit echten intellektuellen oder altruistischen Interessen gemischt sein. Aber die Anspannung der Gier erzeugt immer noch Leiden.
Der Hunger nach Nicht-Sein erzeugt Gier, wenn wir die Ablenkungen und Süchte an uns ziehen, in denen wir uns verstecken. Je nach Versteck sind die Strategien unterschiedlich. In einem Moment zeigt sich vielleicht eine Gier nach Alkohol, im nächsten nach einer einsamen Hütte. In einem anderen Moment wiederum sind unsere Gedanken vielleicht davon besessen, den Menschen, mit dem wir eine sichere Beziehung gegenseitiger Abhängigkeit geschaffen haben, an uns zu ziehen und festzuhalten.
Jeder Hunger kann auch genauso gut Aversionen anheizen. Der Hunger nach Lustgewinn bringt den Drang mit sich, Schmerz zu vermeiden und die Quellen des Lustgewinns zu erhalten; Aversion (Pâli: dosa) entsteht, wenn uns jemand dabei in die Quere kommt. Wenn zum Beispiel jemand beabsichtigt, sich zwischen uns und unseren Ehepartner zu drängen, verspüren wir vielleicht Zorn und verbreiten böse Gerüchte über den/die Betreffende(n). Die zornigen Worte wurzeln in dem Moment, wenn wir sie aussprechen, in Aversion, auch wenn die Momente unmittelbar davor von dem Wunsch getrieben waren, die Freude an unserem Ehepartner zu genießen. Oder wir verspüren vielleicht Hass auf jemanden, der uns Schmerz bereitet hat, indem er uns geschlagen oder etwas gestohlen hat. Während wir den Zorn fühlen, leiden wir. Wenn wir mit Gewalt zurückschlagen, erhöhen wir unseren Schmerz und weiten das Leiden auf andere aus. Diesen Aversionen liegt der Hunger nach Lustgewinn zugrunde.
Der Hunger nach Da-Sein kann ebenfalls hinter der Aversion stecken. Wenn wir es darauf anlegen, gesehen zu werden und jemand unsere Pläne durchkreuzt, kommt höchstwahrscheinlich Aversion auf. Wenn ich mir vorgenommen habe, dem Chef eine gute Nachricht persönlich mitzuteilen, aber ein Kollege mir zuvorkommt, bleibt mein Hunger nach Anerkennung unbefriedigt, und die Energie dieser Frustration nährt meinen Zorn. Oder vielleicht werde ich aufgrund meiner Hautfarbe oder Religion ignoriert oder sogar öffentlich gedemütigt. Mein Drang nach Existenz bleibt ein Leben lang unerfüllt und Aversion entsteht. Gedanken voller Aversion entstehen und wiederholen sich im Denken, und Zorn und Wut entwickeln sich in vollem Ausmaß. Entsprechend meiner Konditionierung und den äußeren Umständen ist die Natur der Aversions-Reaktion krass oder subtil – aber subtile Abneigung und regelrechter Hass haben dieselbe Wurzel, und beide führen geradewegs zu Leiden.
Der Hunger nach Nicht-Sein, nach Flucht, ist natürlich fruchtbarer Boden für das Entstehen von Aversion. Wir suchen die scheinbare Sicherheit der Unsichtbarkeit und fühlen uns zurückgestoßen oder sind sogar wütend auf die, die uns sehen; jeder, der in unser Versteck eindringen sollte, bekäme unsere Aversion zu spüren. Gedanken, die in Aversion wurzeln, ziehen oft zorniges Sprechen nach sich. Ein junger Mann möchte sich hinter seinem Zorn oder seiner Scham verstecken, während seine Freundin ihm nahe sein will und möchte, dass er ein wenig aus sich herausgeht. Er schnauzt sie an. Der Hunger nach Flucht kann selbst auf einer Abneigung gegen Menschen oder gegen die Gesellschaft allgemein beruhen. Vielleicht suchen wir die Abstumpfung durch Drogen; wenn jemand unserer toxischen Strategie in die Quere kommt, entsteht Aversion. Vielleicht haben wir in der Schule oder bei der Arbeit einen sicheren Container geschaffen – einen Weg, uns zu verstecken, uns anzupassen, unsichtbar zu sein. Wenn wir gezwungen werden, im Unterricht oder bei einer Besprechung etwas zu sagen, zerbricht unsere Welt, und Aversion kommt auf.
Verblendung (moha) unterscheidet sich ein wenig vom An-sich-Ziehen und der Aversion. Sie wird nicht so direkt von unseren tiefsitzenden Hungergefühlen stimuliert oder gespeist. Vielmehr halten die Hungergefühle indirekt die Wurzel der Verblendung und die Gedanken, die aus dieser Wurzel entstehen, am Leben. Wenn wir zum Beispiel auf der Jagd nach einem attraktiven Partner sind, interessiert uns wahrscheinlich niemand, den wir nicht attraktiv finden oder der nicht das richtige Alter oder Geschlecht hat. Wenn wir die Mächtigen beeindrucken wollen, kommen Leute mit wenig Macht in unserem Drama nicht vor. Die unseren Hunger nicht bedienen, existieren nicht für uns; wir sind nicht zugänglich für sie. Man könnte meinen, ohne jemanden oder etwas, der oder das eine Anziehungs- oder Abstoßungsreaktion provoziert, würde Friede einkehren. Aber unsere tiefsitzenden Hungergefühle sind immer noch aktiv. Der Druck der Strömung besteht weiter. Der Geist ruht nicht friedlich, sondern bleibt angespannt, ist aber in diesem Moment des zwischenmenschlichen Kontakts stumpf und gleichgültig. Die Gedanken, die aus der Verblendung aufsteigen, sind unklar und automatisch, getragen vom Auf und Ab alter Wünsche und Ängste. Die Worte und Taten, die aus dem verblendeten Denken hervorgehen, verewigen die alten Muster der Abstumpfung. Das Leiden bleibt bestehen.
Wann immer wir mit anderen Menschen im Kontakt sind oder auch nur an sie denken, können in unserem Beziehungsleben Gier, Hass und Verblendung am Werk sein. Wir ziehen Menschen zu uns heran, schieben sie weg und ignorieren die, die uns nicht anregen oder unsere Bedürfnisse erfüllen. Es ist nicht anders als das Herziehen, Wegschieben und Nichtbeachten, das unseren Umgang mit unbelebten Objekten ausmacht. In einem Moment zieht der Geist etwas heran, und sprunghaft schiebt er im nächsten etwas weg, so wie die tiefsitzenden Hungergefühle in unserem Herzen gerade hin- und her manövrieren.
Der Geist wird durch dieses ständige Ziehen und Schieben desorientiert und verletzt; die Verblendung trägt nur dazu bei, das Chaos und die Misshandlung aufrechtzuerhalten. Genauso wie Wirbelstürme und Tornados von den stärkeren Gewalten des Meeres und der Luft gespeist werden, werden diese Bewegungen des Denkens von den Wettersystemen der grundlegenden Hungergefühle gespeist. Unser Leben ist von Aufregung und Unzufriedenheit bedrängt. Wenn wir Erleichterung suchen, kann es kurzfristig nützlich sein, die offensichtlichen Formen von Gier oder Lust, Hass und nebelhafter Verblendung anzugehen. Wir können unser Verhalten ändern, den Geist beobachten oder unsere Umgebung ändern. Wirklich fundamentaler Wandel wird sich allerdings erst ergeben, wenn wir die tiefsitzenden Hungergefühle angehen – die Energiequelle, die all diese Wurzeln, Gedanken und Handlungen antreibt.
Wie ein Chirurg, der eine Gehirnoperation vorbereitet, oder der Leiter einer Friedenskonferenz, der mit allen Konfliktparteien spricht, haben wir die Natur des Problems sorgfältig untersucht. Wir sind bereit zu fragen: Muss es so sein? Können diese Hungergefühle und ihre Ausgeburten Gier, Hass und Verblendung abnehmen oder sogar ganz aufhören? Wir haben bereits ermutigende Hinweise, dass das möglich ist: Wir leiden nicht immer; die Hungergefühle sind nicht alle dauernd präsent; wir beobachten auch Liebe und Mitgefühl, sogar, wenn der Hunger da ist. Unsere sorgfältigen Beobachtungen schaffen die Voraussetzungen für einige sehr gute Nachrichten.
Was tun Sie, um gelobt oder gemocht zu werden und Anerkennung einzuheimsen?
Was macht Sie wütend? Welche Zusammenhänge zwischen Ihren Hungergefühlen und der Entstehung von Aggression stellen Sie fest?
Haben Sie sich in letzter Zeit in einer größeren Gruppe aufgehalten? Wer zog Ihre Aufmerksamkeit auf sich? Denken Sie nach, wen Sie eher nicht beachtet haben und warum.
13 Zitiert in Anlehnung an Schumann, a.a.O., S. 74. Den zentralen Pâli-Begriff „tanhâ“ übersetzt der Autor im amerikanischen Original mit „hunger“ (Hunger) statt dem wörtlicheren „thirst“ (Durst); eine andere gebräuchliche englische Variante lautet „craving“ (Lechzen, Begehren). Bei Schumann ist tanhâ mit „Gier“ übersetzt. Die Entsprechungen für „Werden“ sind „being“