Vollkommene Liebe. John Welwood. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: John Welwood
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783867812481
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Beziehungen geschrieben – Journey of the Heart (Reise des Herzens) und Love and Awakening (Liebe und Erwachen) –, in denen ich erkläre, wie man den Herausforderungen in Beziehungen als Chancen zu persönlichem Wandel und spirituellem Erwachen begegnet und mit ihnen arbeitet. Dieses Buch geht in eine andere Richtung. Es konzentriert sich auf die Wurzel aller Beziehungsprobleme, „die Mutter aller Beziehungsthemen“ – unsere verwundete Beziehung zur Liebe selbst.

      Die Stimmung von mangelnder Liebe

      Es gibt Hunderte von Büchern auf dem Markt, die in der einen oder anderen Form Wege zur Behebung von Beziehungsproblemen anbieten. Einige dieser Techniken können recht hilfreich sein. Aber an einem bestimmten Punkt erweisen sich die meisten Lösungstechniken als Flickwerk, das sich wieder ablöst, weil es nicht auf das eingeht, was an der Wurzel aller zwischenmenschlichen Konflikte und Missverständnisse liegt – sei es nun zwischen Ehepartnern, Familienmitgliedern, Freunden, Arbeitskollegen oder verschiedenen ethnischen Gruppen auf der ganzen Welt. Die verfahrensten Probleme in menschlichen Beziehungen können auf das zurückgeführt werden, was ich die Stimmung von mangelnder Liebe nenne, auf einen tief sitzenden Verdacht, den wir alle in unserem Innern hegen, dass wir nicht einfach nur dafür, dass wir der sind, der wir sind, geliebt werden könnten oder als solcher nicht wirklich liebenswert seien. Diese Gundunsicherheit macht es uns schwer, Vertrauen in uns selbst, in andere Menschen oder das Leben selbst zu haben.

      Die Tatsache, dass wir nicht durch und durch wissen, dass wir wirklich geliebt werden oder liebenswert sind, untergräbt unsere Fähigkeit, Liebe frei zu geben und zu nehmen. Das ist die Kernwunde, welche zwischenmenschliche Konflikte und eine ganze Reihe bekannter Beziehungsprobleme verursacht. Nicht vertrauen zu können, die Furcht zu haben, missbraucht oder abgelehnt zu werden, Eifersucht und Rachsucht zu hegen, defensiv zu mauern, streiten zu müssen, um zu beweisen, dass man Recht hat, sich leicht verletzt oder beleidigt zu fühlen und anderen die Schuld an unserem Schmerz zuzuweisen – das sind nur einige der Weisen, auf die sich unsere Unsicherheit, ob wir geliebt werden oder liebenswert sind, zeigt.

      Die Stimmung von mangelnder Liebe zeigt sich oft in Form von plötzlichen Gefühlsausbrüchen in Reaktion auf jede geringste Beleidigung oder schlechte Behandlung. Es ist, als wäre ein Reservoir an Misstrauen und Groll vorhanden und wartete nur darauf, geöffnet zu werden, was der geringste Vorfall bewirken kann. Selbst teilnahmsvolle und mitfühlende Menschen tragen oft ein ordentliches Maß an mangelnder Liebe und rechthaberischem Groll in sich, das unter bestimmten Umständen plötzlich explodieren kann. Bei manchen Paaren kommen diese Explosionen schnell vor und zerstören eine aufkeimende Beziehung schon bei den ersten Begegnungen. Bei anderen richtet die Stimmung von mangelnder Liebe erst später in einer scheinbar glücklichen Ehe verheerenden Schaden an, wenn einer oder beide Partner eines Tages aufwachen und feststellen, dass sie sich nicht wirklich gesehen oder erkannt fühlen. Es ist nichts Ungewöhnliches, dass lange verheiratete Ehepartner Dinge sagen wie: „Ich weiß, dass mein Mann mich liebt, aber irgendwie fühle ich mich nicht geliebt.“

      Manchmal zeigt sich die Stimmung von mangelnder Liebe in endlosem Gezänk und Irritation über Kleinigkeiten, so als wollten beide Partner ständig nach Gründen suchen, um sich zu beklagen: „Warum liebst du mich nicht mehr?“ Ein Paar, mit dem ich arbeitete, beschrieb z.B. folgenden Vorfall, der zu einer einwöchigen Entfremdung geführt hatte. Die Frau hatte ihrem Mann gerade Tee gemacht, als er sie anfuhr, weil sie Milch hineingetan hatte. „Hab ich dir nicht gesagt, dass ich nicht möchte, dass du mir Milch in den Tee gießt, sondern dass ich ihn zuerst lange ziehen lassen möchte?“ Der einzige Weg zu verstehen, wie so etwas Triviales einen so großen Konflikt auslösen kann, besteht in der Erkenntnis, was ihre Handlung für ihn bedeutet: In seinen Augen hat sie ihm wieder einmal gezeigt, dass sie nicht auf ihn und seine Bedürfnisse eingeht – so wie all die anderen Frauen in seinem Leben, angefangen bei seiner Mutter. Und ihr zeigt die Tatsache, dass selbst so etwas wie ihm Tee zu machen schon zu einem Auslöser von Tadel und Ärger wird, erneut, dass sie seine Liebe niemals gewinnen kann, egal was sie tut. Hinter diesem unbedeutenden Vorfall lauert der uralte Schmerz, sich nicht geliebt und geschätzt zu fühlen, den beide Partner hier erneut inszenieren.

      Als praktizierendem Psychotherapeuten geben mir die Hartnäckigkeit und Unnachgiebigkeit der Stimmung von mangelnder Liebe, die sich trotz genügender Beweise des Gegenteils (so etwa wenn uns die Menschen in unserem Leben sehr wohl lieben) oder trotz langjähriger Psychotherapie oder spiritueller Praxis in der menschlichen Psyche halten kann, Rätsel auf. Noch schlimmer ist die Tatsache, dass die Stimmung von mangelnder Liebe jegliche vorhandene Liebe zurückweisen, heruntermachen oder zerstören kann. Irgendwie scheint die Liebe, die erhältlich ist, immer mangelhaft zu sein – sie reicht nicht aus, sie ist nicht gut genug oder nicht von der richtigen Art. Irgendwie kann sie uns nicht davon überzeugen, dass wir wahrhaftig geliebt werden oder wahrhaft liebenswert sind. Auf diese Weise lässt uns die Stimmung von mangelnder Liebe – als Erwartung, dass wir nicht ganz angenommen oder akzeptiert werden könnten – uns derjenigen Liebe gegenüber verschließen, die uns eigentlich davon befreien könnte.

      Als Ergebnis davon „hat man zwei Wahlmöglichkeiten im Leben: Man kann allein bleiben und sich unglücklich fühlen oder heiraten und wünschen, man wäre tot“, wie H.L. Mencken mit einem Anflug von trockenem, schwarzen Humor schrieb.

      Wenn ich diesen Satz bei Beziehungsseminaren vortrage, ruft er immer schallendes Gelächter hervor, da die Menschen Erleichterung verspüren, wenn dieses grundlegende menschliche Dilemma beim Namen genannt wird. Wenn wir im Bann der Stimmung von mangelnder Liebe stehen, ist das Allein-Leben elend, weil wir uns verlassen fühlen. Und dennoch ist Heiraten keine Erlösung von dieser Not, weil das tägliche Zusammenleben mit jemandem das Gefühl von mangelnder Liebe weiter verstärken kann und es sogar noch mehr zur Hölle werden lassen kann.

      Wie können dann Menschen mit gebrochenem Herzen wie wir diese Verwundung im Zusammenhang mit der Liebe heilen, die über Generationen hinweg weitergegeben worden ist, und uns von den Auseinandersetzungen befreien, die unsere Welt beherrschen? Das ist das entscheidendste Thema des menschlichen Lebens, individuell und kollektiv gesehen. Es ist auch das zentrale Interesse dieses Buches.

      Das Wesen und die Bedeutung von Liebe

      Ich würde Liebe ganz einfach definieren, nämlich als eine kraftvolle Mischung von Offenheit und Wärme, die uns erlaubt, echten Kontakt herzustellen, Freude und Wertschätzung zu empfinden und in Harmonie zu sein – und zwar mit uns selbst, mit anderen und mit dem Leben an sich. Offenheit – das reine, bedingungslose Ja des Herzens – ist die Essenz der Liebe. Und Wärme ist der grundlegende fundamentale Ausdruck von Liebe, der als natürliche Erweiterung dieses Ja aufkommt – das Verlangen, die Hände auszustrecken und das, was wir lieben, zu berühren, uns damit zu verbinden und es zu nähren. Wenn die Offenheit der Liebe wie der klare, wolkenlose Himmel ist, so ist ihre Wärme wie das Sonnenlicht, das diesen Himmel durchflutet und ein regenbogengleiches Spektrum an Farben aussendet: Leidenschaft, Freude, Kontakt, Verbundenheit, Güte, Zuneigung, Verständnis, Dienst, Engagement und Hingabe, um nur ein paar zu nennen.

      Die Heiligen und Mystiker sagen, dass Liebe der Stoff sei, aus dem wir bestehen. Wir seien aus ihrer Wärme und Offenheit gemacht. Wir brauchen keine großen Weisen zu sein, um das zu erkennen. Wir brauchen uns bloß ehrlich anzusehen, was unser Leben lebenswert macht. Wenn die Liebe in uns präsent und lebendig ist und uns bewegt, besteht kein Zweifel, dass unser Leben einen Sinn und ein Ziel hat, unabhängig von unseren äußeren Umständen. Wir fühlen uns in Verbindung mit etwas Größerem als unserem kleinen Selbst. Das nimmt uns die Bürde der Isolation und der Entfremdung von den Schultern und erfüllt uns mit Frieden und Wohlbefinden. Wenn aber die Gegenwart der Liebe fehlt, ist da oftmals eine Traurigkeit, etwas stimmt nicht ganz; etwas scheint zu fehlen, und es ist schwer, Freude zu empfinden, selbst in günstigen Umständen. Wir werden dann leicht von den Gefühlen der Sinnlosigkeit, Angst oder Verzweiflung übermannt.

      Diese einfachen Wahrheiten werden auch von der neurowissenschaftlichen Forschung vertreten1, welche bestätigt, dass unsere Verbindung mit anderen die gesunde Entwicklung und das Funktionieren unseres Gehirns, des endokrinen Systems und des Immunsystems und unser emotionales Gleichgewicht beeinflusst. Kurz gesagt, die Liebe ist die zentrale Kraft, die unser ganzes Leben zusammenhält und es funktionieren lässt.