John Welwood
Vollkommene Liebe
John Welwood
Vollkommene Liebe
und wie sie vielleicht sogar in
einer Beziehung gefunden werden kann
Übersetzt von Elisabeth Pitzenbauer
© 2006 by John Welwood
© 2007 der deutschen Ausgabe: Arbor Verlag, Freiamt,
by arrangement with Shambhala Publications, Inc., 300 Massachusetts
Avenue, Boston, Massachusetts 02115 USA
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel:
Perfect Love, Imperfect Relationships
Alle Rechte vorbehalten
E-Book 2018
Titelfoto: © 2006 plainpicture/apply pictures
Lektorat: Jürgen Blank
E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de
ISBN E-Book: 978-3-86781-248-1
Inhalt
Einleitung
Prolog
1. Vollkommene Liebe, unvollkommene Beziehungen
2. Die Stimmung des Grolls
3. Den Groll loslassen
4. Vom Selbsthass zur Selbstliebe
5. Heiliges Verlangen
6. Die Liebe, die Sie frei macht
Epilog
Übungen
Danksagung
Endnoten
Über den Autor
Dieses Buch ist dem Weltfrieden gewidmet.
Mögen alle Wesen wissen, dass sie geliebt
werden – damit sie in Frieden mit sich
selbst und allen anderen leben können
Spring auf deine Füße, schwinge deine
Fäuste, drohe dem ganzen Universum und
warne es, dass dein Herz nicht mehr länger
ohne wahre Liebe leben kann!
HAFIZ
Einleitung
Eine Nacht voller schmerzhafter Gespräche,
Meine schlimmsten zurückgehaltenen
Geheimnisse:
Alles hat mit Lieben und
Nicht-Lieben zu tun.
RUMI
Die Worte „Ich liebe dich“, die wir in Augenblicken wirklicher Wertschätzung, wahren Staunens oder echter Zuneigung sprechen, kommen von etwas vollkommen Reinem in uns – von der Fähigkeit, uns zu öffnen und ohne Vorbehalt ja zu sagen. Solche Momente eines reinen, offenen Herzens bringen uns so nahe an eine natürliche Vollkommenheit heran, wie es in diesem Leben nur möglich ist. Das warme, strahlende Ja des Herzens ist vollkommen wie die Sonne, indem es alles zum Leben bringt und alles wahrhaft Menschliche nährt.
Merkwürdigerweise ist es, obwohl wir für kurze Momente eine reine, strahlende Liebe im menschlichen Herzen erblicken, dennoch schwer, sie in der Welt um uns herum voll verwirklicht zu finden, insbesondere da, wo es am wichtigsten ist – in unseren Beziehungen zu anderen Menschen. Eine Liebesbeziehung zu riskieren ist in der Tat heutzutage für viele Menschen ein Angst einjagendes Unterfangen, ein fast sicheres Rezept für überwältigenden Schmerz oder emotionale Vernichtung geworden. Kratzen Sie nur an der Oberfläche unserer Kultur, die verrückt ist nach Sex und Romantik, und Sie werden bei vielen Menschen auf eine Desillusionierung stoßen, bei der sie, wie es in einem Popsong heißt, das Gefühl haben, dass „Liebe stinkt“. Oder wie es eine junge Frau in einem meiner Workshops ausdrückte: „Wenn die Liebe so etwas Großartiges ist, warum sind dann Beziehungen so unmöglich? Sagen Sie mir nicht, dass ich mein Herz mehr öffnen soll. Mein Herz ist bereits zu offen, und ich will nicht weiter verletzt werden.“
Unmittelbar neben der Wahrheit von der Vollkommenheit der Liebe gibt es also eine andere, eine schwierigere Wahrheit – das fehlerhafte, verwickelte Netz zwischenmenschlicher Beziehung, aus dem überall, wo wir hinsehen, enorme Frustration, großer Kummer und gewaltige Wut hervorgehen. Im einen Moment ist man in Kontakt mit der Liebe im eigenen Herzen – man fühlt sich offen, teilnahmsvoll und verbunden, und im nächsten Moment ist man mit der geliebten Person, bevor man sich dessen bewusst wird, in einen Konflikt oder ein Missverständnis verwickelt, was dazu führt, dass man sich verschließt oder herzlos verhält.
Es scheint also oft, selbst wenn unsere Liebe ursprünglich und echt ist, dass etwas ihren vollständigen und vollkommenen Ausdruck in Beziehungen verhindert. „Ich liebe dich, aber ich kann nicht mit dir leben“, das ist die klassische Feststellung dieser schmerzlichen Kluft zwischen der reinen Liebe in unserem Herzen und den schwierigen Beziehungen, in denen wir leben. Diese Kluft stellt ein Rätsel dar, das einen verrückt macht und das jeder von uns „lösen muss, oder er wird in Stücke gerissen“, wie D.H. Lawrence es ausdrückte. Dieses Rätsel präsentiert sich in vielen verschiedenen Gewändern. Obwohl die Liebe immer wieder von neuem aufkommt, laufen die meisten von uns mit dem Gefühl herum, dass sie ihnen vorenthalten werde, so als würde man in einem Land des Überflusses verhungern. Während Liebe unglaubliche Freude hervorrufen kann, bringt uns unser Liebesleben oft das größte Leid. Obwohl es nichts gibt, das so schlicht und geradlinig wäre wie die Herzenswärme, ist das „Liebhaben von Mensch zu Mensch … vielleicht das Schwerste, was uns aufgegeben ist“, wie der Dichter Rilke schrieb. Wenn auch die Liebe in einem gewissen Sinne alles besiegt, bleibt der Krieg dennoch die beherrschende Kraft in den Angelegenheiten der Welt.
Das Gefühl von Einsamkeit und Mangel, das viele Menschen im Leben quält, rührt nicht daher, dass es nicht viel Liebe gäbe. Denn man kann die Liebe in der einen oder anderen Form finden, wo immer man hinsieht. Jedes Lächeln und die meisten Gespräche und Blicke, die man mit den Menschen, denen man jeden Tag begegnet, austauscht, enthalten zumindest ein paar Körnchen Liebe in der Form von Interesse, Wertschätzung, Aufmerksamkeit, Wärme oder Freundlichkeit. Wenn Sie all den Austausch, den Sie jeden Tag mit anderen haben, zusammenzählen, werden Sie sehen, dass Ihr Leben von einem Strom von Verbundenheit getragen wird, der das Spiel der Liebe ist. „Es gibt keine andere Kraft auf der Welt als die Liebe“, schreibt Rilke.
Wenn die Liebe aber die größte Macht auf Erden ist, die Kraft, die das menschliche Leben trägt – was in gewisser Weise bestimmt der Fall ist –, warum hat dann die strahlende Wärme der Liebe die Dunkelheit, welche die Welt einhüllt, nicht bannen und unsere Erde verwandeln und erhöhen können? Warum fällt es der Liebe so schwer, das dichte Gewebe der menschlichen Beziehungen zu durchdringen? Wenn die Liebe die größte Quelle unseres Glücks und unserer Freude ist, warum ist es dann so schwer, sich ihr ganz zu öffnen und sie unser Leben beherrschen zu lassen? Was ist das Problem?
Diese Fragen wurden kurz nach dem 11. September 2001, als sich die Welt wieder einmal in einen Krieg stürzte, besonders drängend für mich. Als die Bomben als Vergeltung für die Terroranschläge in New York und Washington auf Afghanistan herunterprasselten, erschien mir die Welt besonders unsicher und gefährlich nahe daran, in Hass und Gewalt zu verfallen. Nachdem die politischen Führer Amerikas einen endlos scheinenden Krieg begonnen hatten, empfand ich es als unbedingt erforderlich, einen frischen Blick darauf zu werfen, warum es für das Beste im Menschen – die Herzenswärme