Deutschenkind. Herbjørg Wassmo. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Herbjørg Wassmo
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Современная зарубежная литература
Год издания: 0
isbn: 9783867548663
Скачать книгу
meinten alle, die Rakel kannten. Alle wussten, dass sie das Zeug zu mehr in sich hatte, als sich nur völlig zu verausgaben.

      Rakel verwaltete Simons Besitz und seine Schulden. Ab und zu beschummelte sie ihn auch ein wenig. Aber niemals aus Bosheit. Nur um ihm das Bitten und Betteln um Geld zu ersparen, für Dinge, von denen er einfach nicht begriff, dass sie nötig waren.

      Rakel hatte ihre Notgroschen in einer Schatulle. Mit der Zeit waren das übrigens nicht gerade wenige.

      Wenn sie etwas davon nahm, so musste das sein, und sie trauerte dem Geld nicht nach. Aber sie war nie blank. Sie hatte schon schlechtere Zeiten erlebt als jetzt bei Simon. Simon erlaubte es sich, über Rakels Schatulle zu lächeln, er mischte sich jedoch in ihre Angelegenheiten nicht ein. Sie ihrerseits ließ ihn niemals merken, dass sie über Geschäft, Mannschaft und Boot Bescheid wusste.

      Es gab auf Bekkejordet auch einen verborgenen Brunnen. In diesem Brunnen wäre Simon einmal beinahe ertrunken. Da war Rakel aus der warmen Stube herausgekommen und hatte ihn aus der Kälte geholt.

      Im tiefsten Herzen wusste Simon, dass Rakel als Letzte untergehen würde, wenn etwas Schlimmes passierte und sie Schiffbruch erlitten. Rakels Stärke verwirrte und überraschte ihn, gerade deswegen, weil sie nicht in den Fäusten lag. Rakels Stärke war unantastbar.

      Das hatte er vor allem begriffen, als sie aus der Stadt kam und ihm erzählte, dass sie keine Kinder bekommen könne. Sie hatte in dem neuen, großkarierten Mantel dagestanden und mit den Händen gestikuliert.

      Der Doktor hatte es gesagt: nach siebenjähriger Ehe keine Hoffnung mehr auf Kinder. Da hatte sie sich eben einen Mantel gekauft. Sie sagte das ebenso verbissen und tränenlos, wie sie es hinnahm, dass sie noch einmal putzen musste, wenn die Arbeiter nach der Kartoffelernte da gewesen waren. Kein Kind! Es lag an ihr.

      Sie hatte unten im Betrieb in der blauen Bürotür gestanden. In seinem Reich hatte sie sein Versagen auf sich genommen.

      Denn es war kein Leben in Simon Bekkejordets Samen. Er war oft nahe daran gewesen, es ihr zu sagen, aber er brachte die Worte einfach nicht heraus. Wusste, dass sie sich sehnlichst ein Kind wünschte. Er überlegte genau, was er sagen wollte. Aber wenn der Augenblick kam, wurde es doch nicht gesagt. Es ging einfach nicht. Zuletzt bedrückte es ihn so, dass er anfing, sich von ihrem Bett fernzuhalten. Er machte sich mehr und mehr im Betrieb zu schaffen, so dass sie eingeschlafen sein musste, wenn er nach Hause kam.

      Vielleicht hatte sie deshalb die Schatulle aufgeschlossen und war in die Stadt gefahren.

      Rakel verwaltete das, was Simon nicht hatte, genauso gut wie das, was er hatte, so sah es jedenfalls aus.

      Da hatte sie nun in dem neuen Mantel gestanden und ihm mit den ehrlichsten Augen der Welt ins Gesicht gelogen. »Ich kann keine Kinder kriegen, Simon. Wir müssen uns etwas anderes einfallen lassen oder kinderlos bleiben.«

      Am Abend hatte er sie genommen, erst etwas schamhaft wie ein dankbarer Hund. Da hatte sie ihm zu verstehen gegeben, dass sie ihn so nicht haben wollte. Und er hatte sich tief in sie hineingegraben und die Sicherheit gefühlt, einen Menschen bei sich zu haben, der ihm mindestens ebenbürtig war im Körper und im Willen. Sie waren wach beieinander, bis der Tag kam und die Arbeit mit dem großen Vorschlaghammer vor dem Bett wartete. Beide lebten voller Wärme und Nähe füreinander. Beide wussten.

      Rakel schaffte sich eine Katze an.

      Der Regen hatte sie überfallen, und unter den Bergkämmen lag der Nebel, dicht wie alte Bosheit.

      Die Berge im Süden gehörten nicht mehr zur sichtbaren Welt. Die Leute heizten ein, schlossen die Haustüren und maulten über die undichten Fenster. Sie suchten Wolljacken und -hosen hervor und grausten sich vor dem notwendigen Geschäft in dem kleinen Häuschen.

      Man knöpfte alles gut zu, wenn man hinausging. Die Gesichter lugten weiß und leuchtend aus den Kleiderbündeln, wenn man unterwegs Menschen traf.

      Am liebsten hockten sie dicht beieinander in den eigenen vier Wänden. Hielten Abstand zu allem, was außerhalb war. Da gab es kein Rufen mehr über Gartenzäune, von denen die Farbe abgeplatzt war, und über rostige, quietschende Wäschegestelle. Die Kartoffeln waren im Haus. Die paar Johannisbeeren, die noch an den Sträuchern hingen, sollten in Gottes Namen die kleinen Vögel fressen.

      Einige Laken und Kissenbezüge hingen dort draußen zwischen den Unterhosen und tanzten im Wind. Aber am Morgen knackte es gewöhnlich in ihnen, wie sie da so in Reih und Glied hingen und sich steif hin und her bewegten. Sie baumelten wie vergessene Leichen in dem eisigen Luftzug.

      In Bezug auf die Unterwäsche besteht ein großer Unterschied zwischen einem Nordnorweger und einem Südnorweger.

      Der Wintermensch hat bedeutend weniger in sich, ist aber umso besser ausgerüstet.

      Das Leben am Kai verlief träge. Es war, als ob beim Winterfischfang an Treibstoff gespart würde. Auf ihren Booten gingen die Männer rund um die Ladeluken und hatten nichts zu tun. Große Hände schlenkerten an der Ölhose entlang oder pusselten ein wenig mit dem Tabak und der Pfeife herum.

      Ab und zu rissen die Männer sich zusammen und schlugen in rasendem Tempo die Arme über der mit der Arbeitsbluse bekleideten Brust zusammen, bis die Hände von der stärkeren Durchblutung und vom Frost glühten.

      »Was treibst du dich denn hier rum?«, konnten die Männer irgendein Kind anschreien, das den Südwest nicht respektierte, sondern einen Spaziergang zwischen den Hütten oder hinter den Bootsschuppen machte.

      Aber viele Männer waren auch um diese Zeit gutmütig und hatten nicht vergessen, dass sie selbst einmal jung gewesen waren. Diese Männer hatten oft leisen Spott im Auge und ein Scherzwort im Mundwinkel, wenn Tora und die Tausendheimbande vorbeikamen.

      Regennasse, glühende Gesichter und quatschende Schuhe an dem einen Tag, eiskalte, schmerzende Finger und triefende Nase am anderen. So war das eben.

      Galoschen mit einem Einmachgummi über dem Rist an dem einen Tag und dicke Socken am anderen.

      Den ganzen Oktober und November war es grau und neblig, aber die Nächte waren trotzdem eiskalt und schlimm und hatten einen tückischen Mond, der für den nächsten Tag gutes Wetter versprach und log. Denn lange bevor die Hühner draußen im Schuppen der Kampfertropfen-Anna zu rumoren anfingen und allmählich an den Tag glaubten, goss es von einem lebensfeindlichen Himmel herunter und gluckste und rann in den morschen Dachrinnen vom Tausendheim. Die Männer trafen sich in dem neuen Laden in Nordvika oder in der alten, dunklen Hütte von Ottar. Sie schwatzten und blieben hängen. Nach ein paar Stunden kam vielleicht der eine oder andere darauf, dass er noch einkaufen musste. Das brauchte dann auch seine Zeit und hatte keine große Eile.

      Ottar stand hinter dem Ladentisch und wog ein bisschen und maß ab. Er rechnete und beteiligte sich an den Klagen über das Wetter, wenn er gerade nichts anderes zu tun hatte.

      »Der Teufel soll das Wetter holen«, konnte er ehrlich überzeugt und mit mühsam unterdrücktem Zorn sagen, wenn er den Südwester aufsetzen musste, um nach draußen zum Lager zu gehen und Heringe oder Sirup zu holen. Denn Ottar hatte einen »Scheitel«.

      Die dünnen Haare von unbestimmter Farbe waren sorgfältig gekämmt, mit einem Scheitel auf der rechten Seite. Das hätten sie damals in Bodø so gehabt, als er dort als Verkäufer gearbeitet hatte, erklärte er stolz.

      Bei den täglichen Anforderungen hatte er natürlich nicht die Zeit, sich dauernd zu kämmen, deshalb benutzte er einen großen Südwester, wenn er nach draußen musste. Dieser hing stets griffbereit auf einem Nähgarnröllchen hinten bei der Tür mit dem abgesprungenen Emailleschild, das die Aufschrift PRIVAT trug.

      Aber lästig war es sowohl mit dem Südwest, der draußen wütete, als auch mit dem Südwester, der drinnen am Haken hing. Es konnte ihm passieren, dass er schon am Kai war, bevor er sich an seine Kopfbedeckung erinnerte. War es windig, was sehr oft der Fall war, dann war der ganze Scheitel zum Teufel. Dann musste er hinauf ins Private eilen und seine Haare in Ordnung bringen, während kostbare Verkaufsminuten sich in Luft auflösten. Denn die heimliche kleine Glatze musste vertuscht werden, koste es, was es wolle.

      Das