Deutschenkind. Herbjørg Wassmo. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Herbjørg Wassmo
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Современная зарубежная литература
Год издания: 0
isbn: 9783867548663
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heute waren die Mutter und sie allein, und da nahm Tora sich Zeit und ließ ihre Augen wandern, wohin sie wollten. An einem solchen Morgen konnte Ingrid ihre Hand behutsam über Toras Schulter gleiten lassen, wenn sie mit dem Pappranzen fertig für den Schulweg dastand. Später sah Ingrid vom Fenster aus das magere kleine Mädchen mit den roten Zöpfen, die hinter ihr herwippten, an der Wegkreuzung verschwinden, zusammen mit den Kindern von Elisif und mit Rita vom ersten Treppenaufgang. Und Ingrid fühlte etwas wie Ohnmacht gegenüber allen Dingen.

      Tora und Sol saßen im Laufe des Nachmittags in dem blau gestrichenen Klo, wenn die Erwachsenen Mittagsschlaf hielten oder mit ihren Dingen beschäftigt waren, so dass die Klobesuche nachließen. Die Mädchen schwatzten oder lasen Zeitung.

      Das Phantom reitet auf seinem weißen Pferd durch den Dschungel, um Sala zu suchen. Die Trommeln haben gesagt, wo sie ist. Sol murmelt halblaut, während sie den gestreckten Zeigefinger gegen das Zeitungspapier und die Natur direkt unter dem molligen Hintern drückt. Es bläst oft sehr frisch dort unten. Bei Flut kommen kleine Wellen schmatzend den Hang hinauf, und der Kot fällt direkt ins Meer.

      Bei Ebbe hört man beim Lesen kleine Plumpse und das Papier flattert heimatlos herum, bis es sich besinnt und seewärts zieht. Tora kann es nicht über sich bringen, sich mit Zeitungen abzuwischen, die nicht mehr als eine Woche alt sind. Sie können bei vielen Klobesuchen gelesen werden. Es gibt allerlei Sphären und Welten in den Zeitungen, die noch ergründet werden müssen, bevor die Zeitungen kassiert werden.

      Hygieneartikel in geheimnisvollen Annoncen. Gabardinemäntel zu herabgesetzten Preisen.

      Aber vor allem sind da das Phantom und Sala. Und Tora faltet die Zeitungen sorgfältig zusammen und legt sie zuunterst in den Stoß der Ablage. Unter die uralten Illustrierten, die zu steif sind, um sich damit abzuwischen. Unter die glitzernden Sommertitelseiten und eine Nummer von Allers von vorigem Ostern, wo das Küken auf dem Titel in zwei Teile zerrissen ist. Ab und zu reißen sie ein Bild heraus und befestigen es an der Wand. Aber es gibt nicht genug Reißnägel.

      Das Klo war in grauer Vorzeit einmal weiß gewesen. Es hatte zwei Türen mit dreieckigen Fenstern, um Licht und Luft hereinzulassen, aber die Fenster waren in züchtiger Höhe angebracht, die einen Einblick unmöglich machte.

      Ursprünglich waren das Pfarrhausklo und das Tausendheimklo beide weiß gestrichen und majestätisch gewesen. Nun lag über Letzterem eine wehmütige, abgeblätterte Größe – wie jemand, der schon auf bessere Klos gegangen war, schnell feststellen konnte. Die eine Klotür war für Männer, die andere für Frauen und kleine Kinder.

      Das Männerklo wurde gelegentlich mit dem Schlauch vom Fischereibetrieb abgespritzt. Er wurde mit großer Aufregung und viel Geschrei den leicht geneigten Hang von der Anlegestelle bis zum Tausendheim hinaufgezogen. Das geschah nicht oft. Erst wenn es so fürchterlich war, dass die Männer freiwillig nicht mehr hingingen.

      Die Frauen hatten ein Stück von einer alten Gardine vor dem Dreiecksfenster und einen Sack auf dem Boden. Im Sommer standen manchmal Glockenblumen und Margeriten in einer Blechbüchse auf dem Brett über den Sitzen. Es gab ein kleines Loch und zwei große. Ab und zu waren alle drei gleichzeitig besetzt. Besonders an späten Herbstabenden und wenn die Winterstürme und die Polarnacht Körper und Seele am schlimmsten belasteten.

      Es war, als ob die Kälte weniger zubiss, wenn man in der Dunkelheit ein entblößtes Hinterteil und eine Stimme neben sich hatte. Es war der gleiche menschliche Geruch und der gleiche warme Dampf aus dem Inneren und Versteckten; das tröstete und schuf eine gewisse Gemeinschaft, über die man nicht zu reden und von der man kein Wesen zu machen brauchte.

      Man klopfte diskret an die Tür auf der gegenüberliegenden Seite des Flurs, flüsterte ein paar Worte durch den Türspalt zu der einen oder anderen. Und schon war die schwesterliche Gemeinschaft besiegelt, und der Gang zum Klo war klar. Geflüsterte Weltanschauungen, vertrauliche Mitteilungen aus dem Reich der Absonderungen oder über die unbändige Bosheit des Herzens gehörten dazu. Da wurden nicht nur die Abfallstoffe der Natur ausgeschieden. Auch Seelsorge und Trost wurden während der Dunkelzeit in dem kalten Kloraum gespendet. Die Menschen spürten den Wind, der vom Meer her in die offenen Löcher wehte, nicht so sehr, wenn sich mehrere Hinterteile dort niederließen.

      Die Männer dagegen hatten einen einsamen Klogang. Aber sie hatten eine andere Gemeinschaft, von der die Frauen ausgeschlossen waren. Nämlich den Schwatz und das Schnäpschen auf den Dachböden der Fischerhütten und den Spaziergang in Været an Sonn- und Feiertagen.

      Sie zeigten ihre Angst vor der Dunkelheit nicht so offen, die Kerle.

      An dem Tag, als Einar in die Dachstube über der Veranda gezogen war, hatte er kritisch nacheinander beide Klotüren geöffnet. Und nachdem er festgestellt hatte, dass das Frauenklo gemütlicher und einladender war, ging er dort hinein und verriegelte vorsichtshalber die Tür. Das war ein großer Fehler, den Einar da im Tausendheim machte. Er wurde ihm nie richtig verziehen.

      Als er wieder auf die Klotreppe hinaustrat, ohne sich die Hose anständig zugeknöpft zu haben, waren bereits drei Fenster zum Hof hin aufgerissen worden.

      Drei Frauengesichter kamen zum Vorschein. Das eine erboster als das andere. Elisif war die Erste gewesen. Sie hielt die Strickjacke mit festem Griff über der üppigen Brust zusammen und öffnete den Mund zu einem spitzen Trichter. Ihr weißes Gebiss funkelte bedrohlich, und die Worte kamen wie Peitschenhiebe an diesem lichtblauen Tag.

      »Was machste aufm Frauenklo, wenn ich fragen darf?«

      Einar stand halb abgewendet auf der schiefen Holztreppe, die rechte Hand am Hosenlatz und die linke am Türhaken. Sein Unterkiefer klappte einen Augenblick herunter, als er den Kopf drehte und die drei Frauenköpfe an der unsauberen Hauswand entdeckte. Drei unversöhnliche, weiß gemeißelte Gesichter vor dem gespenstisch grauen Hintergrund.

      Einar schluckte. Dann fasste er sich, zog blitzschnell die rechte Hand aus dem Hosenlatz und versteckte sie hinter dem Rücken. Er wagte nicht einmal, sie in die Tasche zu stecken, so verdutzt war er über diese enorme Kuckucksuhr von Haus, wo gleichzeitig drei Köpfe mit weit aufgerissenen Schnäbeln draußen waren und schrien. Einar schluckte noch einmal, bevor ihn der Zorn wie ein stechender Frostschmerz überfiel und er schwer atmend und mit rauer Stimme rief: »Was zum Teufel krähste da oben? Darf man hier nicht mal mehr scheißen?«

      »Du warst aufm Frauenklo! Ich hab dich gesehn!« Elisif kannte keine Gnade. Eine strafende Donnerstimme in hoher Tonlage.

      Aber Einar hatte sein Selbstvertrauen wiedergewonnen. »Ist da ein Unterschied zwischen Männer- und Frauenklo? So fein wie hier in Stranda war’s nicht mal beim Pastor, wo ich herkomm. Dem Pastor seine hatte keinen so piekfeinen Arsch, dass sie ein Klo für sich haben musste wie die Weiber hier im Tausendheim.« Und ohne sich weiter um Elisifs Gekeife zu kümmern, schritt er über den Hof und betrat den mittleren Eingang. Er schloss die Verandatür mit einem Knall und stapfte wütend die alte Holztreppe hinauf, so dass die Messingbeschläge ganz außen an jeder Stufe leicht zitterten.

      Kurz darauf saß Einar auf seinem Sofa und blinzelte unfreundlich die Wand an. Der Teufel sollte die Weiber holen. Er wollte sich selbst nicht eingestehen, dass er immer noch Herzklopfen hatte.

      Er benutzt das Frauenklo nie mehr. Trotzdem guckt er jedes Mal böse auf Elisifs Fenster, wenn er über den Hof geht, um seine Notdurft zu verrichten. Und wenn er irgendwo im Haus ihre hohe, dünne Stimme hört, bekommt er ab und zu ein ganz unangebrachtes Herzklopfen, dessen er nicht Herr wird. Das macht ihn rasend. Denn Einar ist ein Mensch, der in jeder Beziehung allein im Leben zurechtkommt. Er fürchtet weder Pastor noch Weiber.

      4

      Das Tausendheim! Der große Holzbau aus der Zeit der Jahrhundertwende zeigte Reste aus stolzer Vorzeit und Spuren menschlicher Dummheit.

      Man konnte beides deutlich an den alten, verwitterten Dachvorsprüngen sehen. Von dem mit Steinen beschwerten Dach mit Moos und Möwendreck bis zu den dicken Grundmauern aus handbehauenen Steinen und bis zu einem Meter tief in die Erde hinein roch es nach einem Fischereibesitzer alten Stils und nach Großkapital. Das Haus hatte drei Etagen und einen Keller und eine Menge hohe, zugige Fenster.