Ole unterstützte Jørgen vorsichtig und winkte Lina ab. Aber sie behauptete: »Jungenpimmel sind eben nicht das Gleiche wie Männerpimmel, verstehste das nicht?«
Nein, Ole und Jørgen verstanden das nicht.
Allmählich gingen sie dann zu einem anderen Gesprächsthema über, denn die Argumente waren verbraucht, und sie wollten eigentlich auch lieber über die Sache reden, als darüber in Streit zu geraten.
Tora grübelte trotzdem darüber nach, was Lina gesagt hatte. Am Abend, unter dem Federbett, bekamen alle ihre Traumgesichte eine blaue Farbe, und die Phantasie kroch ihr sozusagen unter die Haut. Über dem Ganzen lagen der Ekel und die Gefahr und Zerstörung. Alles Geflüstere zwischen der Mutter und Tante Rakel, alle Geräusche aus dem Zimmer, wenn die Mutter und Henrik glaubten, dass sie schlief.
Alle nicht zu Ende erzählten Witze unten in den Fischerhütten, alle Geschichten, die nicht für ihre Ohren bestimmt waren. Sie konnte das nicht voneinander trennen, konnte nicht wissen, wo sie hingehörte. Sie wusste nicht, ob sie Ekel empfand oder …
Manchmal schämte sie sich über sich selbst und war froh, wenn niemand sie in der Dunkelheit sah.
Sie hatte das Gefühl, nicht mehr sie selbst zu sein. Die empfindlichen Kuppen auf der Brust schienen gar nicht richtig zu ihr zu gehören. Sie machte den Rücken krumm, damit niemand sie sah. Wollte sie gewissermaßen in sich verstecken. Aber das half wenig. Sie waren schuld daran, dass ihr alle Kleider oben zu eng wurden. Sie wünschte, sie wäre ein Junge. Lina und Rita waren noch flach. Sie konnten im letzten Sommer bei Ebbe unten am Strand nur in der Unterhose herumlaufen. Tora erfand alle möglichen Entschuldigungen, um nicht dabei sein zu müssen. Sie hatte nicht nur die kleinen Knospen, derentwegen sie sich schämte. Es schienen auch überall Haare zu wachsen. Und manchmal roch es nach alten Nelken, der Geruch kam sowohl von ihr als auch aus den Kleidern. Er erinnerte sie an eine Beerdigung. Ein widerlicher, süßlicher Geruch, jedes Mal, wenn es ihr warm oder wenn sie nervös wurde. Sie hielt sich jetzt meist an Sol, die beinahe zwei Jahre älter und die an manchen Stellen reichlich dicker geworden war. Samstags machte Tora in ihrer Kammer Feuer und trug das Waschwasser und die Handtücher hinein.
Im letzten Winter hatte sie noch in der Zinkwanne vor dem Küchenofen gebadet. Aber dann hatte sie sich ihrer Mutter widersetzt und sich geweigert. Es könnte ja jemand kommen. Einmal war Henrik gekommen, während sie in der Bütte saß. Er betrachtete sie. Es war nicht auszuhalten. Sie blieb sitzen, bis er wieder ging. Er hatte den Körper gesehen, der nicht der ihre war. Dann hatte sie wochenlang nicht gebadet. Die Mutter wurde böse und sagte, dass die Würmer sie noch auffressen würden. Schließlich ließ sie dann durchblicken, dass Tora in ihrer Kammer heizen und dort baden könnte, wenn sie wollte.
Tora fühlte dabei eine weiche, warme Zuneigung für die Mutter. Sie hätte sie am liebsten umarmt, konnte sich aber nicht dazu überwinden. Es schien ein Meer zwischen Mama und ihr zu liegen – in diesen Dingen.
Während des ganzen Frühlings und Sommers hatte sie sich in der Kammer gewaschen und ein Messer zwischen Tür und Türrahmen gesteckt. Das war das einzige Schloss, das sie besaß. Man konnte das Messer gut von außen wegdrücken, aber es war doch eine Art Verschluss, eine Ankündigung, dass sie allein sein wollte, ohne dass sie etwas zu sagen brauchte.
Vor dem großen Pult in der Schule konnte sie auch allein sein. Da hatte sie nur Gunn vor sich.
Alle Augen waren hinter ihr. Sie konnte so tun, als ob sie Gunn zuhörte, und dennoch ihre eigenen Gedanken denken. Sie konnte seelenruhig die wunderlichsten Dinge fantasieren. Gunn war sehr darauf bedacht, dass Ruhe im Klassenzimmer herrschte. Sie hatte eine seltsame Macht über die Kinderschar, um die sie sogar der alte Lehrer hätte beneiden können. Und sie ließ solche Kinder wie Tora mit ihren Gedanken in Frieden.
Ihre Autorität war nicht fassbar, weil sie so ganz anders war als die, welche die Kinder in Form von Ohrfeigen und Prügel von ihren Vätern kannten. Gunns Methode verwirrte vor allem die älteren Jungen. Sie sah sie an. Ließ sie mit dem Blick nicht los.
Manchmal legte sie ihre Hand auf den Nacken des Missetäters. Dann hob sie mit einer bestimmten Bewegung seinen Kopf und sah ihm in die Augen, bis es ganz still im Klassenraum wurde und der Schlingel aufgab.
Aber es dauerte nicht lange, bis Gunns Grübchen wieder zum Vorschein kamen, und alles war gut.
Tora ging gern in die Schule. Sie liebte den Geruch von Staub und Kreide. Man musste nur seine Arbeit ordentlich erledigen, dann hatte man seine Ruhe. Jedenfalls während des Unterrichts. Man konnte Gunn alles fragen – beinahe alles. Und man bekam eine Antwort.
Aber der Hengst des Pastors und die Gefahr gehörten zu den Dingen, nach denen man keinen Erwachsenen fragen konnte. Es war auch nicht so, dass man immer draußen auf der Straße fragen konnte. Das ging nur, wenn es sich gerade ergab. Wie damals auf der Weide.
Im Herbst war Tora in dieselbe Klasse gekommen wie Sol. Die beiden letzten Jahrgänge wurden zusammengefasst.
Sol hatte ein Jahr Vorsprung vor Tora, aber sie prahlte deshalb nicht. Eine vom Tausendheim konnte es sich nicht leisten, eine Freundschaft für Bagatellen zu opfern.
Tora fand Jørgen nicht mehr so aufregend wie die ganzen Jahre zuvor. Der Alltag und die Jahre veränderten sie alle. Und Jørgen schlug sein Wasser in ihre Schuhe ab und versteckte Sols Schulbücher, er fluchte, wenn die Mutter gerade nicht zuhörte, und es zog ihn immer wieder hinunter zu den Kais. Sol war schweigsam, aber sie kannte sich in den meisten Dingen aus, die zwischen den vier Wänden vor sich gingen und die in vielen Irrgängen des Lebens verborgen waren. Sie war die älteste von sieben Elisif-Kindern, und sie hatte mehr oder weniger unfreiwillig Geburt und Empfängnis mitbekommen, in den Nächten all der Wochen und Jahre im Tausendheim.
Aber Tora konnte Sol nicht danach fragen, worüber auf der Straße gesprochen wurde, sonst würde Sol sie am Ende für ein kleines Kind halten.
6
Deutschenkind! Sie hatte das Wort oft gehört. Es lag etwas Schlimmes darin. Ein Urteil.
Henrik hatte das Wort auch benutzt, nicht direkt ihr gegenüber, aber es war durch die dünnen Holzwände gedrungen. Sie hatte die Mutter fragen wollen, aber das Wort blieb ein Teil der Gefahr. Deshalb verdrängte sie es absichtlich, sie hätte es sonst nicht ausgehalten. Es konnten Wochen und Monate vergehen, ohne dass sie das Wort hörte.
Aber es kam immer wieder. Da hatte sie ein Gefühl wie damals, als die Jungen von Været sie hinterlistig dazu überredeten, auf Skiern einen steilen Hang hinunterzufahren, und sie nicht wusste, dass die Jungen mitten im Hang eine Schanze gebaut und den Aufsprung mit mehreren Eimern Wasser schön vereist hatten. Es gab keinen anderen Weg, wenn man erst einmal in der Luft war. Nur viel Sog und leeren Raum rundum. Das Einzige, was man wusste, war, dass man irgendwann landen musste.
Auf der Straße draußen galt ein eigenes Gesetz. Es war nicht immer dasselbe wie das der Erwachsenen. Und es war auch nicht dasselbe wie drinnen in der Küche.
Aber der Schmerz war von kurzer Dauer. Wie bei einem eingeklemmten Finger oder einer Schürfwunde. Es tat weh, so dass die Tränen liefen, egal. Das ging vorüber. Man brauchte sich nicht zu grämen, denn alle kamen an die Reihe.
Ole war der Stärkste und Größte, aber nicht der Schlimmste. Er hatte seine Schwächen. Er pinkelte nachts ins Bett. Und ab und zu roch es so, als ob er nicht genügend Zeit hätte, sich sauberzumachen, bevor er in die Schule ging. Der große Junge! Tora sammelte Schwächen – von anderen.
Sie sagte es ihnen nicht, denn das hätte nur zu Unfrieden geführt. Aber sie dachte daran.
Manchmal träumte sie davon, dass sie es ihnen zurückgeben würde, genau an der Stelle, wo sie am verletzlichsten waren. Aber es wurde nie etwas daraus. Tora war dünn und unansehnlich und klein. Das Einzige, wozu sie Kraft hatte, war der Ballweitwurf. Sie lief auch schneller als alle anderen, wenn es sein musste. Oder sie schlich sich fort, ohne dass jemand es merkte. Dann stieg ihr die Schamröte