Tora saß auf einer Tonne hinten in der dunkelsten Ecke und wartete. Sie hatte eine Liste mit dem wenigen, was sie einkaufen sollte.
Die Wollstrümpfe kratzten. Die Mutter hatte sie ihr auch dieses Jahr wieder aufgezwungen. Jedes Mal, wenn jemand kam oder ging, spürte sie den Luftzug langsam herangleiten und genau die Stelle finden, wo die Hosenkante aufhörte und die bloße Haut zum Vorschein kam, weil sie im letzten Sommer so gewachsen war, dass die Strümpfe zu kurz geworden waren. Sie merkte die Kälte nicht sofort, die schlich gleichsam lauernd, wie mit Eisnadeln, die Schenkel herauf.
Ihr graute vor dem Augenblick, da Ottar ihr zunicken würde und sie an der Reihe wäre, denn sie hatte auch heute kein Geld mit. Nur den Zettel, feucht von den schweißnassen Händen und dem Regen. Auf dem Zettel stand in Ingrids Schrift:
¼ kg Kaffee
1 kg Margarine
1 kg Weizenmehl
100 g Hefe
1 l Sirup
Kannst du das bitte anschreiben, bis ich herunterkomme?
Ingrid
Ottars Gesicht warf Falten in der verkehrten Richtung und wurde ein wenig dunkler, als sie ihm den Zettel gab. Er räusperte sich und holte ihr die Waren. Danach nahm er das große, dicke Buch, das einmal grün gewesen war und ein marmoriertes Muster in allen Farbschattierungen aufwies.
Langsam und traurig suchte er Ingrid Tostes Namen, den Zeigefinger drohend vor sich haltend. Dann fügte er den neuen Betrag zu den vielen anderen, die schon dastanden. Zuletzt schlug er das Buch mit einem Knall zu und seufzte halblaut.
In dieser ganzen Zeit war Tora von einem Fuß auf den anderen getreten und hatte das Gefühl gehabt, Ameisen zwischen ihren Kleidern und dem Körper herumkrabbeln zu spüren.
Dauernd hätte sie Pipi machen können. Obwohl sie sich, bevor sie in den Laden gegangen war, noch hinter den hohen Holzzaun gehockt hatte.
Aber die Waren bekam sie, wie immer.
Es war noch nie vorgekommen, dass Ottar Lebensmittel verweigert hätte, die man zum Brotbacken brauchte.
Tora schlich sich zwischen den Männern durch, deren Gesichter hoch oben zusammenflossen. Augen und nochmals Augen. Münder, die kauten, Münder, die sich um den Pfeifenstiel zwischen gelben Zähnen schlossen oder halboffen und neugierig über ihr standen. Wenn die Messingglocke an der Tür leise klingelte, war das sowohl ein gutes als auch ein schlechtes Zeichen für Tora. Es kam darauf an, in welche Richtung ihre Nase und ihre Zehen zeigten. Hinein oder hinaus.
Zitternd und außer Atem hielt sie so schnell wie möglich hinter dem Holzzaun an und erleichterte sich. Dann eilte sie die Straße entlang und den Hang hinunter zum Tausendheim. Sie sprang über die Pfützen, und die Waren schlugen ihr gegen die Beine. Der alte schwarze Regenmantel hing wie ein Segel hinter ihr, weil sie sich nicht die Zeit genommen hatte, ihn zuzuknöpfen.
Eigentlich wusste sie nicht, was passiert wäre, wenn sie nicht mehr rechtzeitig aus dem Laden gekommen wäre, nachdem Ottar die Waren im Buch notiert hatte. Hier hörte die Phantasie auf. Und Ottar vom Laden wurde gleichsam Jesus und Gott und der Pastor und der alte Lehrer und Henrik in einer Person. Das hielt sie nicht aus. Sie musste fliehen.
Als sie nach Hause kam, schimpfte die Mutter nicht, weil sie die Treppe heraufgepoltert war und die Stiefel noch in der Wohnung anhatte. Sie nahm nur die Einkäufe entgegen und berührte Tora flüchtig mit der freien Hand. Sie lächelte schwach, als ob sie noch etwas sagen wollte.
Aber Tora rannte die Treppe hinunter, hinaus auf die Straße zu den anderen, die struppigen roten Zöpfe wie gefärbte Sisalstummel hinter sich und eine wunderbare, flüchtige Freude in sich. Sie war gerettet. Auch diesmal. Sie konnte die nächste Einkaufstour mit gutem Gewissen verdrängen. Runter in den Bauch damit!
Sicher, sie fühlte sie manchmal wie eine Ratte nagen, wenn der Tag sich näherte. Besonders wenn sie in der einsamen, warmen Dunkelheit ihres Bettes lag. Aber in dem Augenblick, wenn der Einkauf vorüber war, gab es keine Sorgen mehr.
Als sie abends mit steifen Händen und roten Ohrläppchen nach Hause kam, roch es im ganzen Treppenhaus nach Brot. Ihr lief das Wasser im Mund zusammen, und sie sauste die Treppe hinauf. Ihre dünnen, geraden Beine waren unglaublich stark, wenn es darauf ankam. Die Brote lagen noch zum Abkühlen auf dem Küchenschrank. Nichts war dem Geruch von Mutters Brot vergleichbar. Sogar Henrik bekam ein gutes Gesicht, wenn er das Brot witterte. Er konnte sich dann neben den Küchenschrank setzen und seine Finger mit irgendetwas beschäftigen. Er war mit der einen Hand, in der er Kraft hatte, außerordentlich geschickt, und er half mit der anderen, soweit er es vermochte. Aber nur, wenn er wollte.
Tante Rakel meinte, dass er, geschickt wie er war, mit dem Reparieren von Netzen sehr wohl etwas verdienen könnte, wenn er nur nicht eine Frau hätte, die alles herbeischaffte, was sie brauchten. Aber Ingrid antwortete nie auf solche Bemerkungen. Sie stellte sich ganz einfach taub. Tora wusste, ohne Tante Rakel hätte es in den Zeiten, als die Mutter arbeitslos gewesen war, nicht sehr gut bei ihnen ausgesehen.
Abends waren sie allein, die Mutter und sie. Henrik saß unten in der Arntsen-Hütte. Tora hatte seine Stimme durch das offene Fenster gehört, als sie mit den anderen Kindern zwischen den Tonnen Versteck spielte und an dem Fenster vorbeigestrichen war. Es war Samstag, und einige Männer vertrieben sich dort die Zeit. Tora hängte ihr nasses Zeug zum Trocknen in die Nähe des Ofens. Sie legte noch ein paar Schaufeln Kohle auf, nur um der Mutter zu zeigen, dass sie ihr gerne zur Hand ging.
Ingrid nähte. Sie saß über die alte schwarze Nähmaschine gebeugt, die sie von ihrer Großmutter geerbt hatte.
Nun erhob sie sich langsam, reckte den Rücken und stützte ihn mit der rechten Hand. Sie sah blass und müde aus, aber sie lächelte. Es war ein richtiges Lächeln, als ob sie an etwas Schönes dächte. Dann ging sie hinüber zum Küchenschrank und nahm eines der frischen Brote heraus. Schnitt mit raschem, sicherem Griff in das weiche Brot, das jedes Mal nachgab, wenn sie das Messer durch die goldgelbe Kruste drückte. Die Kruste war knusprig und gab bei jedem Schnitt einen Laut von sich, als ob sie um Gnade bäte. Ingrid schmierte reichlich Butter auf die Brotscheiben und ließ den Zuckerlöffel darüber vibrieren, so dass es weiß und schön auf die ganze Scheibe rieselte.
»Was hat er gesagt, der Ottar?«, fragte sie und bestreute eine zweite Scheibe mit Zucker.
»Nee-ee, er hat nichts gesagt … Ich mein, er hat nur mit den Mannsleuten geredet, die da standen.«
Tora zögerte so lange, dass die Mutter sich umdrehte und Tora das Gesicht zeigte, das sie heute Abend am wenigsten sehen wollte. »Warum sagste das? Warum sagste nicht, wie es ist?« Das klang ärgerlich und ängstlich.
»Was soll ich da sagen?« Toras Stimme war zaghaft, aber sie streckte die Hand nach der Schnitte aus, die die Mutter ihr reichte.
»Setz dich ans Tischende und streu den Zucker nicht überallhin!«
Tora ließ sich am Küchentisch nieder und stellte einen Teller unter die Schnitte, so wie es die Mutter haben wollte. Dass sie es immer wieder fertigbrachte, die Mutter in schlechte Laune zu versetzen. Immer machte sie alles falsch. Es war wie verhext! Und das heute Abend, wo sie allein waren und es so schön hätten haben können.
»Der Ottar hat nichts zu mir gesagt. Das ist bestimmt wahr. Wenn du meinst, er hätt was zu mir sagen sollen, weil ich die Sachen hab anschreiben lassen, so hat er nichts gesagt, Ehrenwort!« Sie schwiegen beide. Ingrid hatte sich wieder dem Küchenschrank zugewandt. Der Zucker knirschte laut zwischen Toras Zähnen. Sie konnte es nicht ändern, denn es schmeckte so gut, und sie war hungrig.
Es trommelte jetzt gegen die Fensterscheiben. Der Regen schloss sie zusammen dort ein. Die Mutter schien das auch so zu sehen, dass nur sie einander hatten, denn plötzlich drehte sie sich um, sah Tora freundlich an und sagte: