Aber Großverdiener gab es keine mehr. Sie waren bereits in den schwierigen dreißiger Jahren verschwunden. Und danach wurde das Haus dem Verfall und den Wunden überlassen, die das gemeine Volk ihm zufügte.
Denn in das Tausendheim kamen die Armen. Die, welche schwer zu tragen hatten und arm waren an irdischen Gütern. Und einige waren auch arm an Geist.
Sie drängten sich um die drei Treppenaufgänge zusammen, und manchmal brauchte man sie noch, wenn im Ort eine Lücke entstanden war. Ob das nun an den Kais war, bei den Hausbesitzern oder unter den verschmutzten Zimmerdecken bei anständigen Leuten zum Hausputz.
Die Leute im Tausendheim dachten nicht daran, dass sie das Erdenreich wegen ihrer Sanftmütigkeit besitzen sollten. Daran dachten sie am allerwenigsten.
Aber wenn im Spätherbst der Mond über Veten und Hesthammeren stand und die Mütter ihre Ältesten beauftragt hatten, die kärglichen Kartoffeln vom Gemeinschaftsacker zu ernten, mit dem jährlichen Streit, wo Elisifs Grenzen aufhörten und Arnas und Peders Grenzen begannen, beruhigten sie sich auf ihre Weise unter den Lampen. Wenn sie jung waren, lungerten sie in Været herum, und wenn sie noch jünger waren, spielten sie in dem dunklen Keller Verstecken.
Der Mond streute sein prächtiges Silber über den alten Drachenkopf am Südfirst (am Nordfirst war er bereits vor dem Krieg heruntergefallen), und die Gemüter im Tausendheim erhoben sich über ihre eigene graue Sanftmut.
Wenn die Sonne endlich wiederkehrte und auf das schneebedeckte alte Dach schien, kamen die Männer mit Kabeljau und Rogen heim. Die Mandelkartoffeln wurden aus dem Keller geholt, und der schwere, friedliche Dunst von gekochter Leber durchzog das Haus.
Da riefen sie sich durch die offenen Fenster zu, dass die dunkle Zeit vorbei sei, und die Frauen halfen einander mit den Schubkarren bis zur Flussmündung, wo sie die wintergelben Laken zum Bleichen auf den Felsen und den alten Schneewehen ausbreiteten.
Die Poesie lag in den Details. In den segensreichen Tropfen aus der abgebrochenen Dachrinne zum Beispiel. Aber sie war scheu, und sie wurde kaum beachtet, wie ein armes Kind, das keine stillen und dem niemand Liebe geben will.
Das Magische daran, überhaupt am Leben zu sein, ging einem armen Teufel selten auf. Das begriff er höchstens bei Sturm und Schiffbruch.
Es konnte passieren.
In der Dachstube über der Veranda im Tausendheim wohnte viele Jahre eine alte Witwe. Sie strickte für die Kinder im Haus und verprügelte sie der Reihe nach, wenn sie Unfug trieben. Sie warf Steine auf streunende Hunde und putzte die Treppen, ob sie dran war oder nicht. Da hatten die im mittleren Treppenhaus Glück. Aber dann fing sie an, die Küchentücher im Nachttopf zu waschen, und vergaß sich selbst und die Treppe. Schließlich musste sie ins Altersheim nach Breiland gebracht werden. Da war sie genau einen Tag und eine Nacht. Dann war es aus mit ihr.
So wurde die Dachstube frei für Einar, der von dem neuen Pastor vom Pfarrhof gejagt wurde, weil er die Eier unter den Hühnern und den Speck aus dem Vorratsspeicher stahl. Die Dachkammer befand sich oberhalb der alten Glasveranda. Da war übrigens nicht mehr viel Glas. Der Südwestwind hatte gewütet und die kleinen Glasscheiben eine nach der anderen zerbrochen. Die Männer hatten an der Südwestseite Holzteile und Platten davorgenagelt, um Wind und Wetter abzuhalten.
Wenn die Außenlampe eingeschaltet war und in dem schaumgekrönten, jähzornigen Meer glitzerte, sah die ganze Glasveranda wie ein blindes Auge aus. Nur zwei kleine Scheiben hatten überlebt. Sie schielten trotzig und verwundert in den Himmel.
Die Dachstube war ziemlich fußkalt.
Dagegen zog es kaum durch das Fenster. Das kleine Dachfenster ließ nämlich nicht den Wind durch, sondern weinte. Es tropfte und rann, wenn Schnee und Regen das Fenster blind machten.
Einar hatte schnell denselben Trick entdeckt, den auch die Kalla-Witwe angewandt hatte. Er stellte eine Waschschüssel darunter. Auf dem Boden unter dem Fenster war ein verschwommener, rostiger Kreis von der Witwenschüssel. Einar begriff den Sinn dieses Kreises sofort und setzte beim ersten Unwetter seine Schüssel dorthin. Durch das segensreiche Guckloch im Dach schaute Gottes uralter und launischer Himmel herein – falls das Wetter es zuließ. Man brauchte keine Vorhänge gegen neugierige Blicke, und es gab kein Fensterbrett für Topfpflanzen. Das war Einar nur recht.
Tobias A. Brinch und Waldemar E. Brinch hatten einstmals jedes Lebewesen und jede Bewegung auf Øya besessen. Sie steuerten aus der Ferne jedes Fischerboot südlich von Vagen und steuerten den Überschuss in die eigene Tasche.
Von zwei Herrschaftshäusern mit Dienstboten, Gesellschaften und Festlichkeiten aller Art gingen die Befehle über Leben oder Verhungern in fernen Zeiten aus. Der Pfarrhof war der dritte Machtfaktor, und der konnte wohl mithalten, auch wenn hier nicht von Kronen und Öre die Rede war.
Gegen Ende der dreißiger Jahre geschah das Unbegreifliche: Die Dorfbesitzer Brinch gingen in Konkurs. Die Kais, der Laden, der Grund und Boden, alles war beliehen und gepfändet. Schlechte Zeiten und Spekulation, sagten die, die mit so etwas Bescheid wussten.
Das Haupthaus war das größere und gehörte dem älteren der beiden Brüder, Herrn T. A. Brinch. Mit seinen geschnitzten Dachfirsten und der Glasveranda bot es unten in Stranda einen prächtigen Anblick. Zuerst war ein Herr aus Bergen gekommen und hatte einen Winter und einen Sommer lang die Konkursmasse verwaltet. Er wurde von einer Firma in Bergen bezahlt, um die Räder in Gang zu halten, aber es schien dem wohlhabenden Mann und Junggesellen da oben unter dem Nordlicht und bei Möwengeschrei allmählich zu einsam zu werden. Jedenfalls verschwand er an einem schönen Frühlingstag und ward nie mehr gesehen.
Jetzt beherbergte das Hauptgebäude so viel Menschengewürm und Dreck, dass es wohl zu Recht Tausendheim hieß.
Weiter oben am Hang stand der »Hof«, etwas kleiner zwar im Umfang als das Tausendheim, aber höher angesehen, nachdem die Fassade zweimal weiß angestrichen worden war. Er diente als Schule und wurde beheizt und instand gehalten von dem alten Almar aus Hestvika.
Während des Krieges entdeckten die Deutschen den Hof. Die zerbrochenen Tür- und Fensterangeln wurden in Ordnung gebracht, und die verblichene Seidentapete wurde übermalt. Derbes Gelächter und Gegröle erscholl unter dem Dachgebälk, und es setzte sich ein unausrottbarer Geruch nach Leder und Uniformjacken in den Räumen fest.
Es verging ein Friedensjahr, bis man es für moralisch vertretbar hielt, unschuldige Kinder in dieses Haus hinaufzuschicken, aber die Leute vermehrten sich wie verrückt, und das alte Schulhaus unten auf der Landspitze wurde zu klein. So kamen die Kinder und Almar und nahmen den Hof in Besitz. Aber für die alten Leute mit großem Respekt vor den Mächtigen früherer Zeiten war es ein schlimmes Zeichen, dass der Hof von Hand zu Hand ging. Und sie nahmen in Verbindung mit dem Hof auch niemals das Wort »Schule« in den Mund, ebenso wenig wie sie »Kaserne« oder »Deutschenlager« gesagt hatten.
Aber Almar war nicht von der Nostalgie ergriffen. Endlich hatte er einen sicheren Lebensunterhalt. Kinder produzierten die Leute bereitwillig drauflos, und geheizt werden musste, wenn die Rasselbande sich im Winter nicht zu Tode frieren sollte.
In den wunderbaren Sommermonaten hatte er dann seine Ruhe draußen im Fjord und konnte fischen.
Während der Schulmonate heizte Almar den meterhohen Ofen, leerte die Aborte und sammelte Abfall auf.
In dem großen, zugigen Klassenzimmer im zweiten Stock stand ein wackliger schwarzer Ofen und grübelte über die wahre Größe der guten alten Zeit.
Am Fußboden zog es vom Meer her, und in Gesichtshöhe schlug ihnen die Hitze entgegen wie glühendes Eisen. Den Kindern lief die Nase, wenn sie in der Nähe des Ofens saßen, und der Kopf schwitzte, aber die an der Tür froren am ganzen Körper. Öfen hätten keinen Verstand, deshalb könnten sie nicht nach unten wärmen, sagte Almar, wenn die Kinder sich, selten genug, beklagten. So tauten sie die Füße in den Schultaschen auf. Tora hatte ihren Platz direkt vor dem Katheder. Fräulein Helmersen