Mit dem Mut einer Frau. Jane Pejsa. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jane Pejsa
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Биографии и Мемуары
Год издания: 0
isbn: 9783865064493
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im letzten Wagen fährt. Auf gerader Strecke ist der erste Wagen völlig ihrer Sicht entzogen, wenn der Weg jedoch einen Bogen macht, kann Ruth einen kurzen Blick von Jürgens roten, im Wind flatternden Seidenschal erhaschen. Einen Moment lang fällt sie zurück in ihre Kindheitsfantasien und sieht ihren Märchenprinzen mit wehendem Schal auf seinem Pferd in großer Eile auf sie zureiten.

      November. Ruth ist fast 18 Jahre alt und bereitet sich auf die kommende Ballsaison in Oppeln vor. Sie trägt die Haare nun kurz und ihr Ballkleid ist nicht mehr hochgeschlossen wie früher. Sowohl ihr Haarschnitt als auch ihr Kleid sind Ausdruck ihres unabhängigen Geistes und ihrer Absicht, sich den jungen Männern so zu präsentieren, wie sie es für richtig hält. Auf den beiden ersten Bällen ist sie eindeutig die Ballkönigin. Den Eltern bleibt die kühne Entwicklung ihrer Tochter nicht verborgen und in der Tat sind sie etwas beunruhigt. Sie überlassen jedoch die Aufgabe, mit Ruth zu sprechen, dem älteren Bruder Rob, den sie vergöttert. Es soll unter allen Umständen verhindert werden, dass unangenehme Situationen für Ruth selbst oder die Familie entstehen.

      Rob, der auf Weihnachtsurlaub zu Hause weilt, bittet Ruth in die Bibliothek. Er schließt die Türen, bittet Ruth, sich zu setzen, und rückt sich einen Stuhl zurecht, sodass er ihr gegenübersitzt. Ihre Hände fest in seinen haltend, spricht er in einem Ton mit ihr, den Ruth nicht von ihm gewöhnt ist. Er warnt sie davor, sich den Kopf durch Komplimente verdrehen zu lassen, und betont, dass Frauen, die im Ruf stehen, kokett zu sein, oder den Anschein erwecken, als wären sie leicht zu haben, schnell von den Männern verachtet werden, die sie zunächst mit Komplimenten überhäuft haben. Er versichert ihr, Männer würden nur selten solche Frauen heiraten, und dann fragt er sie: »Du möchtest doch gerne heiraten, oder?«

      All das ist zu viel für Ruth. Sie wirft sich ihrem Bruder in die Arme und weint untröstlich. All ihre Trauer und Verzweiflung über Jürgen von Kleist tritt nun zutage – ebenso wie das Geständnis, ihr Verhalten sei lediglich ein kläglicher Versuch, ihr durch seine Zurückhaltung so angeschlagenes Selbstbewusstsein wieder aufzurichten. Ihre einzige wirkliche Sehnsucht sei Jürgen und es sähe nun so aus, als würde ihr Herzenswunsch nie in Erfüllung gehen!

      Schließlich werden die Tränen getrocknet und die Geschwister vereinbaren, keiner von beiden würde diese Unterhaltung je wieder erwähnen. Des Bruders Worte jedoch bleiben für immer in Ruths Herzen und binden sie noch enger an ihn, der selbst während der tiefen Entfremdung, die ihn später von den meisten Angehörigen der Familie Zedlitz und Trützschler trennen wird, der geliebte Bruder bleiben wird.

      1885. Gegen Ende des Winters bringt der Vater zum Abendessen einen versiegelten Brief mit, den er soeben erhalten hat. Der Absender lautet Kieckow, der Poststempel Belgard. Mit einem Messer öffnet er das Kuvert, entnimmt den Brief und liest der versammelten Familie vor:

      Hochverehrter Herr Graf! Hochzuverehrender Herr Präsident!

       Euer Hochgeboren erlaube ich mir mitzuteilen …

      Der Brief ist von Jürgen von Kleist, der dem Vater mitteilt, er habe das Staatsexamen bestanden und wolle ihm für alle erhaltene Unterstützung und Ausbildung während seines mehrmonatigen Praktikums im Büro des Regierungspräsidenten zu Oppeln danken.

      Die Tochter des Präsidenten wird in diesen Zeilen mit keiner Silbe erwähnt. Vater wendet den Brief, als vermisse er noch etwas; vielleicht ist auch er überrascht über das, was in dem Brief nicht steht, aber er sagt nichts. Ruth, die eben noch voller Hoffnung steckte, verfällt in ungeahnte Tiefen der Verzweiflung. Zwei Monate später erhält der Vater abermals einen Brief mit dem Absender Kieckow in seiner Post. Diesmal ist es ein schwarz umrandeter Brief, in dem der junge Herr von Kleist den Tod seiner Mutter mitteilt sowie den Grafen davon unterrichtet, dass er für sechs Wochen als Reserveoffizier eingezogen werde. Nach Absolvierung dieser sechs Wochen hoffe er, nach Oppeln zu kommen. Diesmal entschließt sich der Vater, den Brief der Familie nicht vorzulesen, vielleicht, um seiner Tochter erneute falsche Hoffnungen auf den lange abwesenden Freier zu ersparen.

      Ruth beginnt, sich ernsthaft Gedanken über ihre Zukunft zu machen. Für sie gibt es drei Möglichkeiten: erstens Hofdame zu werden, die im Dienst der Königin steht, bei den Feierlichkeiten und gesellschaftlichen Anlässen im Palast hilft und Anteil hat am Klatsch des Hofes. Für Ruth ist dies eine abscheuliche Zukunft, die sie unter allen Umständen vermeiden will. Dann könnte sie vielleicht Stiftspröpstin oder Diakonisse werden. Sie denkt gerne an das angenehme Jahr im Diakonissenhaus zurück, aber ihr ganzes Leben dort zu verbringen – nein, das ist sicher auch nicht das Richtige für sie. Nur, was bleibt ihr? Heiraten! Etwa den vornehmen adligen Witwer aus dem Familienkreis, der Vater eines kleinen Kindes ist? Er hat Ruth in letzter Zeit ernsthaft umworben, was sie bislang ruhig und höflich, jedoch bestimmt zurückwies. Sie fragt sich, ob Gott sie dazu bestimmt habe, dem Halbwaisen die Mutter zu ersetzen. Ihre Gefühle und Gedanken sind völlig durcheinander. Dann versucht sie, ihre Motive zu erforschen – ist es Egoismus oder einfach der Glaube an die wahre Liebe, der sie den Witwer abweisen lässt? Sie entschließt sich, das Letztere zu glauben – sicherlich kann Gott von niemandem erwarten, so gegen seine Gefühle zu handeln.

      Oktober. Vater ist in Oppeln; Bruder Robert als Soldat ir­gend­wo in Italien; Lisa, Ruth und Anni sind seit dem Sommer mit Mutter allein in Großenborau, da sie und Vater beschlossen haben, an der Ballsaison in Oppeln dieses Jahr nicht teilzunehmen. Stefan und Ehrengard sind auf ein paar Ferientage von der Schule nach Hause zurückgekehrt. Der Vater wird für den Abend erwartet und dann wird die ganze Familie mit Ausnahme von Rob für einige Tage wie früher vereint sein.

      Es ist noch Vormittag und Ruth deckt gerade die lange Tafel für ein spätes Frühstück. Sie rückt die Tassen und Untertassen zurecht und sieht dabei unbekümmert am Platz ihrer Mutter die morgens zugestellte Post durch. Sie entdeckt ein geöff­netes Kuvert mit einem Brief des Vaters, den Mutter offensichtlich vorhin gelesen hatte. Entgegen ihrer Erziehung, aber machtlos gegen ihre Neugierde, zieht Ruth den Brief heraus, wobei ein weiterer, noch versiegelter Brief he­rausfällt, der ganz eindeutig Jürgens Handschrift trägt. Da­rauf liest sie die Worte »Gräfin Ruth von Zedlitz und Trützschler«. Ruth nimmt den Brief, steckt den ihres Vaters wieder in den Umschlag, legt ihn zurück auf Mutters Platz, lässt alles liegen und stehen und läuft, so schnell sie kann, durch die Halle in die Bibliothek. Jemand ruft ihren Namen, aber sie dreht sich nicht um und schließt die Türen hinter sich. Sie lässt sich in Vaters Sessel fallen, reißt den Briefumschlag auf und faltet das Schreiben auseinander. Diesmal darf es nicht schon wieder eine falsche Hoffnung, eine Enttäuschung sein. In Ge­dan­ken fleht Ruth den Absender an, Mitleid mit ihrem armen Herzen zu haben, und beginnt dann zu lesen:

      Gnädigste Gräfin!

       Seitdem ich die Ehre und Freude habe, Sie zu kennen, habe ich eine tiefe und durch die langen Zeiten der Trennung nur wachsende Liebe für Sie empfunden … Wollen Sie mir nun für Ihr ganzes Leben vertrauen?

      Jahre später noch wird Ruth überzeugt sein, sie habe in diesem Moment Gott gesehen. Sie verbirgt ihr Gesicht in den Händen, kaum kann sie die Fassung bewahren. Er möchte mich zu seiner Frau machen, er möchte mich zu seiner Frau machen! Mutter ist Ruth gefolgt, leise öffnet sie eine der großen Türen zur Bibliothek. Sie umarmt ihre Tochter und setzt sich neben sie, um ihr auch die beiden anderen Briefe vorzulesen, die heute gekommen sind – beide sind vom Vater, der erste ist an die Mutter gerichtet, der zweite ist für Ruth bestimmt. Vater besteht darauf, dass Ruth die Tragweite der Versprechung, um die sie gebeten wird, genau bedenkt, bevor sie auf Herrn von Kleists Antrag antwortet, aber Ruth ist ungeduldig und hört kaum zu. Auf diese lang ersehnte Frage, dieses wundervolle Geschenk, das ihr endlich, aber doch völlig unerwartet zuteil wurde, gibt es nur eine einzige Antwort: »Ja, ja, tausendmal ja!«

      Der Vater hat Ruth um eine umgehende Antwort gebeten. Sollte die Antwort positiv ausfallen, würde er mit Jürgen noch am selben Abend aus Oppeln kommen. Das Codewort der Depesche, die sie in dem Fall schicken sollte, heißt: »Ja, kommt.« Ruth eilt aus dem Haus zum Postamt im Dorf und diktiert dem Postbeamten die Nachricht für ihren Vater. An diesem Abend geht Ruth allein, ungeduldig wartend, in dem unbeleuchteten Raum auf und ab, von dem aus sie den Hauseingang beobachten kann. Endlich hält eine Kutsche vor der Treppe des Hauses, Vater und Jürgen treten ein. Sie hört kaum ihre Stimmen, als die Mutter sie im Haus willkommen heißt. Kurze