Zum ersten Mal werden von zwei Dienstboten beide Flügel der Doppeltür geöffnet. Der altgediente erste Diener von Großenborau, er trägt die abgelegte Abendjacke des Grafen, nimmt seinen Platz an der linken Tür ein. Unter allen Dienstboten wurde er ausgewählt zum Dank für seine langen und treuen Dienste für den Hausherren von Großenborau. Ruth betritt den Raum am Arm ihres Vaters und geht mit ihm direkt auf Jürgen zu. Dem Bräutigam in die Augen sehend, spricht der Vater die Worte, mit denen die Braut an ihn übergeben wird. Würde die Braut über diese Worte genau nachdenken, könnte sie vielleicht vor einer Heirat zurückschrecken. Aber wie für jede andere Braut vor ihr sind sie eben doch nur Teil einer alten Tradition. Es ist ein bewegender Augenblick, den niemand durch ein Geräusch stören möchte. Um den Bann zu brechen, nimmt der Vater den Arm der Gräfin und bedeutet in seiner gastfreundlichen Art, ihm und dem Brautpaar zu folgen. Die Prozession führt nach oben in einen Saal, der normalerweise nur für Zusammenkünfte genutzt wird, bei denen der Kaiser entweder selbst oder häufiger noch einer seiner Vertreter anwesend ist.
Dieser relativ kleine Raum ist vielleicht der eleganteste Konferenzsaal in den Regierungsbezirksstädten des deutschen Ostens. Er ist zwar nicht vergleichbar mit ähnlichen Einrichtungen in Bayern, aber Preußen erhebt auch nicht den Anspruch, mit Süddeutschlands barocker Eleganz konkurrieren zu wollen. Für diesen Tag wurde der Raum in eine Hochzeitskapelle verwandelt und geschmückt wie nie zuvor. Schwarz-gelbe Girlanden – in den Trützschlerschen Farben – schmücken die Kronleuchter und Wandkerzenhalter. Der große Tisch wurde entfernt, jede freie Fläche sowie die Ecken sind unter einem Meer von Blumen aus dem Gewächshaus verschwunden. Das gesamte Arrangement wurde genau nach den Anweisungen des Grafen gestaltet, der es bis zu diesem Moment keinem gestattete, sein Werk zu betrachten. Er ließ sogar das Altargemälde aus der Familienkapelle von Großenborau als ein sichtbares Symbol der Familientradition herbeischaffen. Die feierlich-melancholische Stimmung von vorhin verwandelt sich in diesem Überfluss an Farbe und duftenden Blumen in Ehrfurcht und Freude.
Das Brautpaar steht vor dem Altar, ihm gegenüber Konsistorialrat Geisler, Mitglied des evangelischen Konsistoriums in Schlesien. Der Geistliche trägt eine farbenfrohe und reich verzierte Robe, die Ruth unangebracht erscheint und ihrer religiösen Erziehung völlig fremd ist. Sie hätte sich viel lieber von dem Pastor aus Freystadt trauen lassen, doch hat sie den Wünschen ihres Vaters nachgegeben. Dies ist das erste Mal, dass Ruth mit der Institution Kirche nicht einverstanden ist, und es wird nicht das letzte Mal sein!
Der Geistliche beginnt den Gottesdienst mit dem Trauspruch, den der Vater, die Einstellung seiner Tochter gut kennend, für sie ausgewählt hat. Er ist dem Buch Ruth aus dem Alten Testament entnommen:
Wo du hingehst, da will ich auch hingehen; wo du bleibst, da bleibe ich auch. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott. Wo du stirbst, da sterbe ich auch; da will ich auch begraben werden.
Darauf folgt eine lange, nicht erinnerungswürdige Predigt über die religiöse Bedeutung der Ehe. Ruth hat Schwierigkeiten, ihre Aufmerksamkeit diesem Fremden zu widmen, und ist erleichtert, als die Moralpredigt endlich vorüber ist. Sie tröstet sich damit, dass nicht dieser Geistliche, sondern Gott sie in Wirklichkeit mit Jürgen verbunden hat. Jürgen steckt ihr den Trauring an die rechte Hand. Er wurde aus zwei alten Golddukaten gegossen, die im Namen von Jürgens Vorfahren geprägt worden waren – ein echter Kleist-Ring also! Konsistorialrat Geisler erklärt die beiden zu Mann und Frau und beschließt die Zeremonie mit dem Segen.
Nun ist Ruth keine Gräfin mehr. Als wollte der Vater diese entscheidende Statusänderung betonen, gibt er Jürgen die Anweisung, seine Braut von der linken auf die rechte Seite zu führen. Dies soll, ebenfalls nach alter Tradition, die Besitznahme der Braut durch den Bräutigam symbolisieren.
Wieder zieht die ganze Gesellschaft – Graf und Gräfin voran, das Brautpaar als Nächstes – hinunter in den großen Empfangssaal, wo bereits die Tafel für ein üppiges Hochzeitsmahl gedeckt ist. An jedem der 70 Plätze steht ein Namenskärtchen. An beiden Enden der Tafel hält je ein Diener einen Stuhl bereit für Ruth und für ihre Mutter. Auf beiden Seiten der Tafel sorgen die Herren dafür, dass ihre Tischdamen sich gesetzt haben, bevor sie selber Platz nehmen. Als alle zum Grafen hinüberblicken und warten, wie es weitergeht, senkt dieser den Kopf zum Gebet, wie es vor jeder Mahlzeit in der Familie gesprochen wird. Nun hört man Geschirrklappern und während die Suppe aufgetragen wird, schlägt der Graf mit dem Löffel an das Glas, um sich Gehör zu verschaffen. Alles erhebt sich in Erwartung des Trinkspruches, der seit Generationen von getreuen Preußen immer als erster ausgebracht wird – nämlich der Trinkspruch auf das Wohl Wilhelms, König von Preußen und deutscher Kaiser.
In den nächsten zwei Stunden wird in dem prächtigen Saal mit der gebotenen vornehmen Zurückhaltung gespeist und getrunken. Immer wieder ertönt ausgelassenes Gelächter und Heiterkeit breitet sich über die ganze Tafel aus. Gegen Ende der Mahlzeit erhebt der Graf sein Glas zum Abschied seiner Tochter, »dem Sonnenschein des elterlichen Hauses«. An diesem Punkt versagt ihm die Stimme und er muss seine Abschiedsrede kurzerhand abbrechen. Ruth am anderen Ende des Tisches wird ebenfalls von Gefühlen übermannt und würde sich am liebsten ein letztes Mal ihrem Vater in die Arme stürzen. Natürlich tut sie es nicht.
Ruths Schwiegervater Hans Hugo von Kleist beendet das Schweigen sofort mit einer Darstellung seines Respekts und seiner Wertschätzung des Grafen und der Gräfin sowie seiner Freude über die Vereinigung zweier so alter und treuer Familien wie denen der Zedlitz und Kleist. Er legt dar, von welch großer Bedeutung diese Heirat für die Zukunft Preußens sei, und schließt mit einer Anspielung auf die deutsche Nation, einer zugleich humorvollen, aber auch etwas scharfen Bemerkung. Alle Anwesenden verstehen Kleists respektlose Nebeneinanderstellung Preußens und Deutschlands. Hans Hugo von Kleist, ältester Freund und Zimmergenosse Otto von Bismarcks aus Junggesellentagen, ist mit des Kanzlers Ansichten über einen modernen deutschen Nationalstaat nicht einverstanden.
Am späten Nachmittag begeben sich Ruth und Jürgen auf Hochzeitsreise. Die Kutsche aus Großenborau, deren Messingbeschläge in der Sonne funkeln, steht schon bereit. Der Kutscher befindet sich auf seinem Platz und der alte Diener der Familie, der Ruth die Tür aufhält, verabschiedet sie mit den Worten: »Gnädige Frau, Gottes Segen sei mit Ihnen.« Was für ein eigenartiges Gefühl, gnädige Frau genannt zu werden! Selbst in Großenborau wird sie nie wieder »Konts Ruth« sein.
II
Die Frau des Landrats
1886–1897
Besuch in Kieckow
Februar. Die Hochzeitsreise beginnt am Bahnhof von Oppeln. Mit dem Schnellzug fahren Ruth und Jürgen nach Breslau, von dort über Posen nach Berlin. In der Berliner Wohnung von Jürgens Vater wird Ruth mit ihrer neuen Rolle als Schwägerin von Elisabeth und Anton, Jürgens Geschwistern, konfrontiert. Die beiden lassen sie eine gewisse Zurückhaltung spüren und Ruth fragt sich, woran das liegen mag. Es ist die erste Enttäuschung in ihrer jungen Ehe, wodurch ihre seit dem Hochzeitstag anhaltende Begeisterung etwas gedämpft wird.
Ruths anfänglicher Respekt Vater Kleist gegenüber entwickelt sich schnell zu einer immer tiefer werdenden Zuneigung, was sie selbst überrascht, denn ihr Schwiegervater besitzt weder die Flexibilität noch den Optimismus, den sie an ihrem eigenen Vater so liebt. Ihr Schwiegervater gilt als Konservativer unter den Konservativen. Er sieht mit eher negativen Erwartungen in die Zukunft – sowohl die Politik und die Religion als auch private Familienangelegenheiten betreffend.
Vor 40 Jahren hatten Vater Kleist und Otto von Bismarck ein kleines Zimmer in einer bescheidenen Pension in Berlin geteilt. Sie waren beide Aristokraten und Mitglieder des preußischen Herrenhauses. Bismarck hatte gerade Johanna von Puttkamer, Hans Hugos Nichte, geheiratet, sodass Hans Hugo von Kleist zu »Onkel Hans« für seinen Freund und Altersgenossen wurde. Damals war Bismarck noch ein Gegner der liberalen und nationalistischen Ideen, die sich in Preußen, aber auch in anderen deutschsprachigen Ländern und fast in ganz Europa schnell ausbreiteten, er war also