Drei Kilometer südlich von Groß Tychow hält die Kutsche kurz an einer Kreuzung und biegt dann in einer Neunzig-Grad-Kurve nach links ab, um in ein Dorf zu gelangen. Die weiterhin gut ausgebaute Straße wird hier von Ahornbäumen gesäumt. Zur Linken liegen wie hingestreut ein Dutzend bescheidene, strohgedeckte Holzhütten, in einer kleinen Senke im Norden erkennt man einen Stall sowie eine Kornkammer. Jürgen zeigt auf ein niedriges Fachwerkhäuschen dahinter, wo, wie er sagt, sein Gutsverwalter wohne. Dies ist also das Dorf Klein Krössin. Ruths Stimmung sinkt, als sie das Dorf der Kleists mit Großenborau vergleicht, aber sie beißt sich auf die Zunge, um nichts zu sagen, was ihren gutherzigen Mann verletzen könnte.
Auf ihrem Weg durch das Dorf begegnen sie einem Mann mit einem Kind, die ihnen beide zuwinken. Jürgen grüßt spontan zurück. Ruth gefällt das freundliche, breite Lächeln auf den Gesichtern und sie sagt sich, das Leben könne hier nicht so schlecht sein, wie es zunächst den Anschein erweckte. Dem Kutscher fällt es immer schwerer, die Pferde im Zaum zu halten, da sie bereits den Stall wittern – es sind nur noch drei Kilometer und sie befinden sich bereits auf Grund und Boden von Jürgens Vater. Da kommen die ersten Gebäude von Kieckow in Sicht – ein Hühnerhaus, ein Kornspeicher, ein Schuppen zur Linken, dann die ersten Dorfhäuser zur Rechten, in der Ferne mehrere aus Ziegeln gebaute Ställe. Was Ruth jedoch nicht entdecken kann, ist die Brennerei, die normalerweise die Güter überragt und prägt. Auf Kleistschem Land gab es so etwas noch nie, und das wird auch in Zukunft so bleiben.
Aber wo befindet sich das Gutshaus? Kurz darauf, als die Kutsche links in einen überfrorenen Weg einbiegt, der auf beiden Seiten mit einer kahlen, ausgewachsenen Hecke eingefasst ist, taucht es auf. Jürgen drückt Ruth fester an sich und zeigt mit der anderen Hand auf die kahlen Büsche: »Warte nur bis zum Frühling, mein Liebling, dann werden die Fliederbüsche über und über blühen.« Offenbar ist ihm die Enttäuschung seiner Braut nicht entgangen.
Die Kutsche fährt in den offenen Hof des Gutshauses von Kieckow, eines einstöckigen Bauwerks mit steinernen Grundmauern. Das weitläufige Gebäude ist reich mit Stuck verziert, das kunstvoll entworfene Dach mit roten Ziegeln gedeckt – selbst die gewölbten kleinen Giebel über jedem Dachfenster in den Unterkünften der Dienstboten. Für Ruth ist dieses Dach die schönste Überraschung des Tages – nie hatte Jürgen erwähnt, dass Kieckow das hübscheste Dach habe, das sie je gesehen hat. Unter dem Dach befinden sich die Wohnräume der Familie. Das Zentrum des Hauses bildet die große Halle mit symmetrisch angeordneten, zweiflügeligen hohen Sprossenfenstern.
Der Wagen rollt die leicht steigende Anfahrt zum Eingang hinauf und hält unmittelbar vor dem verglasten Eingang. Der Kutscher springt vom Bock, doch kommt er einen Moment zu spät, denn Jürgen steht schon da, bereit, Ruth beim Aussteigen die Hand zu reichen. Während sie die Decke zurückwirft und aus der Kutsche steigt, öffnen sich die Glastüren. Das Paar wird von der Hausdame mit einem freundlichen Lächeln, einem Knicks und festem Händedruck begrüßt.
Hans Hugo von Kleist lebt mit dem von Geburt an kränklichen Hans Anton und Elisabeth, auf deren Hilfe er stark angewiesen ist, hauptsächlich in Berlin. So kommt es, dass sich die Hausdame während der letzten Jahre meist allein in dem Haus aufhält. Vater Kleist ist nun 71 Jahre alt und die Bewohner von Kieckow wünschten, er käme wieder in sein Zuhause zurück. Das Dorf und die landwirtschaftlichen Betriebe haben sehr unter seiner langen Abwesenheit gelitten. Nie kann ein Pächter oder angestellter Verwalter die Anwesenheit engagierter Besitzer ersetzen.
Ruth durchquert die verglaste Veranda und betritt durch die massiven Holztüren die Eingangshalle von Kieckow. Im Inneren erscheint ihr alles vertraut, obwohl sie noch nie so weit oben im Norden war. Wie in jedem Gutshaus, das sie kennt, gibt es auch hier schwere Samtvorhänge, die im Winter gegen die bittere Kälte schützen. Genau wie zu Hause hängen im Salon Porträts von früheren Königen und treuen Vasallen an den Wänden, von denen die Landbesitzer abstammen.
Auf dem Tisch wurde bereits der Tee angerichtet, doch Ruth möchte sich nicht setzen, bevor sie nicht die anderen »Persönlichkeiten« in diesem Raum kennengelernt hat. Als Erster und Wichtigster ist da natürlich Friedrich der Große, zwar schon seit genau 100 Jahren tot, aber sehr wohl lebendig im Herzen eines jeden Preußen. Er wird auf der einen Seite von General von Borcke und auf der anderen Seite von General von Kleist flankiert, beides Jürgens Vorfahren.
Auf der gegenüberliegenden Wand sieht man Hans Jürgen, dreimal verheiratet, und seine letzte Frau Auguste, die Großmutter, an die sich Jürgen in Liebe erinnert. Wie doch die Vergangenheit und die Gegenwart ineinander übergehen, denkt Ruth, wenn man in einem alten Gutshaus aufwächst. Dann gibt es noch Porträts neueren Datums vom Vater, Hans Hugo von Kleist, und der Mutter, der verstorbenen Gräfin Charlotte. Sie trägt eine goldene Halskette mit einem großen schwarzen, goldumrandeten Kreuz, in dessen Mitte ein riesiger Amethyst sitzt. Ruth fragt, ob es dieses Kreuz wirklich gibt oder ob der Künstler seiner Fantasie freien Lauf gelassen hätte. Jürgen versichert ihr, seine Mutter habe immer, solange er zurückdenken könne, an Sonntagen und während der Fastenzeit dieses Kreuz getragen. Das Kreuz war ein Geschenk des Königs von Preußen an Jürgens Großvater, Graf Stolberg; nach dem Tod des alten Grafen ging das Kreuz an seine Tochter Charlotte, Jürgens Mutter. Im Laufe der Jahre erhielt das Kreuz mystische Kräfte in den Augen der Dorfbevölkerung von Kieckow, da die Mutter es immer auf ihrem üblicherweise dunklen Kleid trug, wenn sie Kranke oder Sterbende besuchte. In der Familie wird es heute noch das Stolbergsche Kreuz genannt. Derzeit gehört es Jürgens Schwester Elisabeth. (Was Jürgen nicht weiß, ist, dass es die Dorfbewohner das Zauberkreuz nennen und dass sich Jung und Alt fragt, wer es nach Elisabeth tragen wird.)
Unter Charlottes Porträt steht eine Vase mit Birkenzweigen, deren Knospen sich gerade öffnen – die Hausdame hat sie offenbar dorthin gestellt. Kieckow trauert noch über den Verlust der Herrin, die das Kreuz getragen hat.
Endlich begeben sich Ruth und Jürgen zum Tee, der mit belegten Broten serviert wird. Es werden auch verschiedene Kuchen mit und ohne Früchte angeboten, wie es die Tradition seit Urzeiten gebietet. Jürgen besteht darauf, nicht zu viel Zeit zu verlieren, da er seiner Frau vor Anbruch der Dunkelheit jedes einzelne Zimmer aus der Welt seiner Kindheit zeigen möchte. Neben der Eingangshalle, der Bibliothek und dem Salon befinden sich die Privaträume der Familie und die große Festhalle, an die eine glasbedachte Terrasse angrenzt. Ruth nimmt sich vor, sehr viel Zeit auf der Terrasse zu verbringen, da sie eine schöne Aussicht auf den Wald von Kieckow bietet und auch an Regentagen geschützt ist. Als sie noch ein Kind war, sagte ihr der Vater, der Wald gebe einem Weisheit und Stärke; dieser Gedanke hat sich in ihr festgesetzt.
Die klamme Kälte und graue Monotonie dieses Februarnachmittags lasten jedoch weiter schwer auf der Stimmung der Besucherin. Sie würde zu gerne einige Veränderungen vornehmen, hier einen Vorhang entfernen, dort eine Tür öffnen, ein Möbelstück umstellen, ein anderes ersetzen. Ruth ist sich aber bewusst, dass sie sich zurückhalten muss, da sie nicht die Herrin von Kieckow ist. Bis Vater Kleist zu einer langfristigen Entscheidung kommt, ist Elisabeth, die sich seit dem Tod ihrer Mutter um das Wohl des Vaters und des Bruders kümmert, die Herrin. Dies ist also Elisabeths Haus. Ruth erinnert sich an die kühle Atmosphäre bei ihrem Zusammentreffen mit der Schwägerin – vielleicht sollte man es verstehen. Als Tochter eines Gutsbesitzers erzogen zu werden und dann nie Frau eines Gutsherrn zu werden, ist ein bitteres Los. Möglicherweise beantwortet das auch die Frage, warum viele Frauen aus dem preußischen Adel in Diakonissenmutterhäuser eintreten.
Während Ruth über Elisabeths Stellung und ihre eigene Jugend nachdenkt, erscheint plötzlich der Kutscher. Er müsse leider stören, aber es werde schon dämmerig und die Kutsche stehe vor der Tür bereit, um sie beide in die Kirche zu bringen. Seit mehr als einer Stunde warten dort Vertreter des Dorfes im Freien in der Hoffnung, die neue Frau von Kleist begrüßen