Mit dem Mut einer Frau. Jane Pejsa. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jane Pejsa
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Биографии и Мемуары
Год издания: 0
isbn: 9783865064493
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mit ihm in der gemeinsamen Unterkunft zu verbessern suchte.

      Die Herkunft und die Lebenseinstellung dieser beiden Landbesitzer aus Pommern hatten einen gemeinsamen Ursprung. Ihre Übereinstimmung ging so weit, dass Bismarck seinen noch ledigen Onkel bei der Wahl seiner Braut – Gräfin Charlotte zu Stolberg und Wernigerode – beriet, ja weit mehr noch, er schritt sogar ein, als Hans Hugo von Kleist seinen Heiratsantrag so lange hinausschob, bis Komtess Charlotte als Probeschwester ins Diakonissenmutterhaus eingetreten war und kurz vor der Einsegnung als Diakonisse stand.

      Im Laufe der Jahrzehnte verblasste Otto von Bismarcks preußische Grundhaltung, ganz zu schweigen von seiner Einstellung gegenüber Pommern. Er wurde zu einem immer stärkeren Verfechter eines expandierenden deutschen Reiches, nämlich des von ihm geschaffenen Nationalstaates. Als überragendem Politiker gelang es ihm, Feinde in Verbündete und Freunde in Gegner zu verwandeln, ganz nach Bedarf seiner politischen Zielsetzung.

      In jenen Tagen zeigt sich in Vater Kleists Gesichtsausdruck ein gewisses Unbehagen, das selbst in glücklichsten Momenten nicht von ihm weicht. Ruth vermutet, seine Traurigkeit sei auf die Politik zurückzuführen, da allgemein bekannt ist, dass Otto von Bismarck Hans Hugo von Kleist und Gleichgesinnte öffentlich zu »Reichsfeinden« erklärt hat.

      Ruths Mutmaßungen sind jedoch nur teilweise richtig. Die Sorge um die Zukunft seiner Heimat und seiner Län­dereien in Pommern beschäftigt Kleist in zunehmendem Maße. In schlaflosen Nächten grübelt er darüber nach, wie er seine Güter Kieckow und Klein Krössin seinem jüngeren Sohn vermachen könnte, ohne seine beiden anderen Kinder zu verletzen, die unverheiratet sind. Im preußischen Adel plant man für die zukünftigen, noch ungeborenen Generationen.

      Am Ende ihres Aufenthalts in Berlin besteigen Ruth und Jürgen wieder den Zug und hoffen, nun etwas mehr Zeit füreinander zu finden. Die letzte Etappe ihrer Reise führt sie nach Köslin in Pommern, wo Jürgen seinen ersten richtigen Posten in der königlichen Verwaltung antreten wird. Von Berlin aus reisen sie in Richtung Nordosten, überqueren die Oder und fahren langsam von Ort zu Ort in Richtung Ostsee. Hier gibt es keine Schnellzüge, denn das Land ist nur dünn besiedelt – ein deutliches Zeichen, dass Pommern nicht mit Schlesien vergleichbar ist. Die Landschaft unterscheidet sich sehr von der Umgebung Großenboraus mit den hübschen Dörfern, den sauberen Häusern mit den rot gedeckten Dächern und gepflegten Gärten. Allein wäre Ruth vielleicht versucht gewesen umzukehren, aber mit Jürgen an ihrer Seite würde sie ohne zu zögern in eine Wüste ziehen, was Pommern nun wirklich nicht ist!

      Als Ruth und Jürgen mit dem Zug in Köslin ankommen, ist es kalt und düster, die Stadt liegt unter einer Schneedecke begraben. Die winterliche Stimmung verstärkt noch die graue Monotonie. Selbst das Haus, in das Jürgen seine Braut bringt, ist äußerlich, auch für niedrigste Ansprüche, trostlos – die Wohnung befindet sich über einem kleinen Geschäft. Ruth und Jürgen erreichen ihre Räume im zweiten Stock des schmucklosen Steinhauses über eine dunkle Treppe. Die Zweifel, die Ruth über ihr neues Heim am Ende der Treppe gehabt haben mag, verfliegen jedoch schnell. Jürgen öffnet mit Schwung die Tür und als Ruth die Wohnung betritt, steht vor ihr eine ehemalige Spielgefährtin ihrer Kindheit aus dem Dorf in Großenborau in einem frisch gestärkten Dienstmädchenkleid. Voller Freude umarmt Ruth die junge Frau, vergessend, dass Herrin und Bedienstete immer eine gewisse Distanz wahren sollten.

      Ruths Blicke wandern über die frisch gestrichenen und renovierten Räume, die ihr neues Heim sein werden. Wie jedes der sechs Zimmer wurde auch der Eingangsraum von Jürgen speziell für seine junge Frau eingerichtet – zwar spärlich, aber hier und dort befinden sich kleine Dinge und Erinnerungsgegenstände aus Kieckow. Den Fremdenführer in einem touristischen Bergdorf nachahmend, erklärt Jürgen mit wichtiger Stimme, dies sei der »Berliner Salon«, eine Kombination von Ess- und Wohnzimmer, wie sie in den großen, modernen Wohnungen in Deutschlands Hauptstadt jetzt üblich ist. Eingerichtet ist dieser Salon unter anderem mit einem prächtigen alten Büfett mit Bleiglastüren; dahinter entdeckt Ruth im Licht der Wandleuchter funkelnde Kristallgläser. Sie waren unter den Hochzeitsgeschenken, die alle vorausgeschickt worden waren. Es besteht kein Zweifel, das Dienstmädchen musste während seiner ersten Tage in Pommern sehr emsig gearbeitet haben. Am Arm führt Jürgen Ruth in das kleine Arbeitszimmer, dort ist ein Schreibtisch ganz für sie allein. Dann geht es weiter in einen sonnigen Salon, wo sie ihren Nachmittagstee einnehmen werden. Zurück im Berliner Salon treten sie durch die halb geöffneten Doppeltüren in das etwas dunkler gehaltene Herrenzimmer mit den schweren Aschenbechern und der Zigarrenkiste und weiter in das Schlafzimmer mit dem großen Doppelbett und einem riesigen Kleiderschrank. Mit den Worten: »Dies ist unser Raum«, nimmt Jürgen seine frisch angetraute Frau in die Arme.

      Ruth und Jürgen von Kleist auf ihrer Hochzeitsreise

      An ihrem ersten Sonntag in Köslin bereitet sich Ruth auf den lang erwarteten Besuch in Kieckow vor. Trotz des Neuschnees und der eisigen Kälte lässt Jürgen die Kutsche vom Gut nach Köslin kommen, um seine junge Frau und ihn zum ersten Besuch ihres späteren Zuhauses abzuholen. Die Entfernung beträgt 36 Kilometer, sodass der Kutscher noch bei Dunkelheit aufbrechen muss. Einige Stunden später stehen Pferde und Kutsche vor dem Haus in Köslin bereit.

      Das junge Paar – Ruth in Pelzmütze, Mantel und Muff, Geschenken ihres Vaters, die sie im Norden vor der Kälte schützen sollen – besteigt die Kutsche, die sich sogleich in Richtung Süden in Bewegung setzt. Voller Temperament preschen die Pferde durch die kalte Morgenluft, die jungen Eheleute sind warm in eine Felldecke gehüllt.

      Der Weg von Köslin nach Kieckow führt durch Belgard, das alte Zentrum der Kleistschen Ländereien. Man spürt deutlich, wie sehr sich Jürgen hier zu Hause fühlt. Er beginnt, Ruth aus seiner Familiengeschichte und den noch heute starken, aus grauer Vorzeit stammenden Familienbindungen zu erzählen. Die Familie geht zurück auf einen Conrad Klest, der erste Kleist, der sich hier im 13. Jahrhundert niederließ, als Masowien noch dem polnischen Königreich angehörte.

      Jürgen fährt mit seinen Schilderungen auch fort, als die Kutsche die lebhafte Stadt Belgard, Sitz der Kreisverwaltung, erreicht. Im 16. Jahrhundert wurde praktisch der gesamte Kreis von der einen oder anderen Linie der Kleists beherrscht. Bis zum 18. Jahrhundert war das Land weiter aufgeteilt worden; die Dörfer und Güter Muttrin, Villnow, Tychow, Schmenzin, Kieckow und Krössin blieben aber allesamt im Besitz der Familie Kleist. Schließt man auch die weiblichen Nachfahren Klests aus Belgard in die Nachforschungen mit ein, kann man mit großer Sicherheit annehmen, dass alle Landbesitzer dieses Kreises auf irgendeine Weise mit dem slawischen Einwanderer Conrad Klest verwandt sind.

      Hinter Belgard wird die Fahrt angenehmer und die Landschaft einladender. Jürgen erzählt weiter von früher. Der Großvater, Hans Jürgen von Kleist, war im Besitz von drei Belgarder Gütern: Kieckow, Klein Krössin und Groß Tychow, insgesamt 24 000 Morgen Land. Als der König ihn zum Landrat des Kreises Belgard ernannte, war er der größte Landbesitzer der Gegend. Kaum im Amt, begann der Großvater mit dem Bau befestigter Straßen, die alle Güter des Kreises und Belgard miteinander verbinden sollten. Diese neuen Straßen sollten auf beiden Seiten von Bäumen – Linden, Buchen und Ulmen – gesäumt werden zum Schutz gegen die von der Ostsee kommenden eisigen Winterwinde.

      Die von Hans Jürgen von Kleist angelegten Alleen unterscheiden diesen Landstrich deutlich von anderen Landschaften Deutschlands. Selbst die 50-jährige Benutzung durch Pferdegespanne konnte den stabil gebauten Straßen kaum etwas anhaben. Und erst die Bäume! Nach einem halben Jahrhundert sind die Baumkronen von Großvaters Linden zu einem schützenden Dach zusammengewachsen, das selbst ohne Blätter der Kutsche aus Kieckow guten Windschutz bietet.

      24 Kilometer hinter Belgard erscheint das Schloss von Groß Tychow am Horizont, jetzt das Zuhause von Jürgens Vetter und Cousine zweiten Grades, Graf und Gräfin von Kleist. Früher lebte dort einmal sein Großvater Hans Jürgen, der nach dem Tod seiner ersten und in der Folge auch seiner zweiten Frau mit seinen fünf Kindern nach Kieckow gezogen war. Dort heiratete er ein drittes Mal – die Witwe Auguste von Borcke, Jürgens Großmutter. Hans Hugo von Kleist, Jürgens Vater, war das einzige Kind, das aus dieser Ehe hervorging und in Kieckow das Licht der Welt erblickte.