Eines der anderen Mädchen ging vor mir ins Zelt. Als es nach einer Viertelstunde wieder herauskam, senkte es den Blick und murmelte: »Also die hat echt eine Schraube locker.« Dann kam ich an die Reihe. Ich ging durch den Vorhang und stand in einem winzigen, stickigen Raum. Darin standen zwei Stühle und ein Tischchen. Auf dem Tisch lag ein Tuch, und auf dem Tuch lag ein Deck Tarotkarten. Wie ich mich noch vage erinnere, sahen sie ganz ähnlich aus wie das Kartendeck, das auf dem Kaminsims meiner Großmutter Nan Frances – der Mutter meiner Mutter – lag. Alles wirkte sehr »hexig«, wie ich meine übersinnlichen Kräfte gerne bezeichne.
Ohne mich anzusehen, deutete die Frau an, ich solle mich setzen. Sie hatte blonde Strähnen, die ihr über die Schulter fielen, lange rosa Fingernägel, die wie eine tödliche Waffe aussahen, und war stark geschminkt. Sie trug ein langes wallendes lila Gewand und klimpernde Ohrringe, genauso wie ich es von einer Handleserin oder Hellseherin erwartet hätte. Ja, sie war eine waschechte Wahrsagerin.
Sie hob langsam den Blick und sah mich mit großen blauen Augen an. Gleichzeitig nahm sie mit einer raschen Handbewegung die Karten vom Tisch. Als unsere Blicke sich trafen, breitete sie die Karten vor mir aus und starrte mich durchdringend an. Ich hatte das Gefühl, als würde sie durch mich hindurchschauen, und das machte mich so unbehaglich, dass ich mich umdrehte, um zu sehen, was sich denn hinter mir befand.
»Interessant – sehr interessant«, bemerkte sie und reichte mir die Karten. Dann bat die Frau mich, sie zu mischen, mit der linken Hand abzuheben und in drei Haufen abzulegen. Mittlerweile war ich richtiggehend nervös, doch da ich sie nicht verärgern wollte, tat ich ihr den Gefallen. Nun forderte sie mich auf, zwei Kartensets auszusuchen.
Aber welche sind die Richtigen?, dachte ich. Woher soll ich wissen, welche die richtigen Sets sind? Doch noch bevor ich die Frage zu Ende gedacht hatte, sagte die Frau: »Sie werden sich von den Kartensets angezogen fühlen, die Sie brauchen. Wählen Sie nicht mit dem Kopf, sondern lassen Sie die Karten zu sich kommen.«
Oh, sie hat meine Gedanken gelesen! Also tat ich genau das. Heute weiß ich, dass es vielen Leuten so geht, wenn sie für eine Sitzung Karten aussuchen sollen: Sie machen sich Sorgen, das falsche Deck oder die falschen Sets auszuwählen. Doch wie ich bald herausfand, ist es eine Chance, auf seine innersten Eingebungen zu hören und das Verlangen loszulassen, das Ergebnis zu beeinflussen.
Die Frau mischte die Karten, die ich ausgesucht hatte. Dann starrte sie mich wieder an, was mir ganz unangenehm war.
»Stimmt irgendwas nicht?«, fragte ich, da ich keine Ahnung hatte, was sie sah – natürlich dachte ich ans Schlimmste.
Sie beugte sich zu mir vor und sagte so leise, als wollte sie verhindern, dass andere es hören könnten: »Du hast eine Gabe. Aber du weißt nicht, was du damit anfangen sollst.« Ich saß mit offenem Mund da und war sprachlos. »Deine Gabe ist extrem stark, viel stärker als meine eigene«, fuhr sie fort. »Jemandem wie dir bin ich seit vielen Jahren nicht mehr begegnet.«
Nun war es heraus. Jetzt war das bestätigt, was meine Klassenkameradin gesagt hatte, als sie aus dem Zelt herausgekommen war – diese Frau hatte wirklich eine Schraube locker. Wie konnte sie einer siebzehnjährigen Schülerin erzählen, dass diese eine größere Gabe hätte als sie, die die Zukunft anderer voraussagte? Sicher war es ein Betrug oder Trick ...
Aber Moment mal – woher weiß sie überhaupt von meiner Gabe? Dieser Gedanke fesselte mich an den Stuhl. Dann forderte sie mich auf, ihr Fragen zu stellen. Natürlich wollte ich zuerst was über Jungs erfahren. (Sie behielt Recht, als sie mir sagte, die Männer in meinem Leben würden nie die »Richtigen« sein.) Außerdem wollte ich wissen, was ich in Zukunft beruflich machen würde. Sie sagte, ich würde eine Berufsausbildung machen, und auch wenn ich verschiedene Berufe ausüben würde, wäre nur eine Tätigkeit von Bedeutung. Wie sie mir sagte, würde ich mich selbst entscheiden müssen. Damals ahnte ich noch nicht, dass sich diese Entscheidung auf meine Gabe bezog und darauf, sie zu meiner Berufung zu machen.
Ich habe die Abschiedsworte der Frau, als ich das Zelt durch den Vorhang verließ und zu meinen Freunden zurückging, nie vergessen. »Du wirst vielen Menschen helfen und ihr Leben verändern. Bleib dran!«
Heute weiß ich, dass die Frau unglaubliche übersinnliche Fähigkeiten hatte und von den Leuten wahrscheinlich wegen ihrer billigen Aufmachung belächelt wurde oder weil sie ihnen nicht das bestätigte, was sie hören wollten. Im Rückblick wird mir klar, dass die Freundin, die als Erste ins Zelt ging, vermutlich nur deshalb sauer wieder herauskam, weil sie nicht das zu hören bekam, was sie erwartet hatte, und weil das, was die Wahrsagerin ihr stattdessen gesagt hatte, den Nagel auf den Kopf traf!
Sobald ich vor dem Zelt auftauchte, kamen meine Freunde angelaufen und wollten unbedingt wissen, was die Frau mir gesagt hatte. Ich dachte mir irgendwas aus, weil ich nicht darauf vorbereitet war, die Worte der Frau als Wahrheit anzunehmen, obwohl meine Gabe für mich ganz normal war (und noch heute ist). Irgendwie war die Bestätigung meiner Gabe durch die Wahrsagerin und ihre Bemerkung, dass ich damit vielen Menschen helfen würde, zu viel für mich und ich wollte es nicht unbedingt brühwarm in die Welt hinausposaunen. Heutzutage erlebe ich ähnliche Reaktionen bei Menschen, denen ich Readings gebe, wenn die gechannelte Information von ihrem gegenwärtigen Selbstbild zu sehr abweicht. Doch damals hatte ich keinen Schimmer, wovon die Wahrsagerin eigentlich redete, und auch wenn ihre Botschaft mich zutiefst beeindruckte, behielt ich sie lieber für mich.
Der Einfluss meiner Großmutter
Nach diesem Erlebnis in Blackpool wurde meine Neugier auf meine Großmutter Nan Frances geweckt. Ich wusste zwar, dass sie zu Hause Konsultationen als Medium abgehalten hatte, doch bisher hatte ich ihre Tätigkeit nicht mit der der Wahrsagerin in Blackpool in Verbindung gebracht – bis ich sah, dass beide die gleichen Tarotkarten verwendeten.
Ich erinnerte mich daran, wie öfters Leute zu meiner Großmutter kamen und geduldig am Treppenabsatz auf ihre Sitzungen warteten. Ich weiß noch, dass sie sich leise darüber unterhielten, was wohl passieren würde, wenn irgendein verstorbener Verwandter oder Bekannter durchkäme und die Verbindung zu ihnen aufnehmen würde. Doch das war der Alltag meiner Großmutter; das tat sie schon, seit ich denken konnte. Ich hatte mir noch nie ernsthafte Gedanken darüber gemacht, selbst dann nicht, als sie mich streng ermahnte, die Karten auf ihrem Kaminsims ja nicht anzurühren.
Eines Tages bekam ich die Chance, bei einer Sitzung meiner Großmutter dabei zu sein. Ich war von Zuhause ausgezogen, um über hundert Meilen weiter weg in Hertfordshire mein eigenes Leben zu beginnen. Meine Freundin Sue, die wie ich in Redditch aufgewachsen war, und ich fuhren gerade auf einen Besuch nach Hause, als wir uns spontan entschlossen, einen Abstecher zu meiner Großmutter zu machen. Nan begrüßte uns herzlich und forderte uns plötzlich auf, an dem runden Tischchen in der Ecke des Zimmers mit Blick auf den Garten Platz zu nehmen. Sobald wir uns alle hingesetzt hatten, sah Nan Sue direkt in die Augen und sagte: »David ist wegen dir hier.« Sie machte eine Pause und las Sue die Karten.
Auch wenn Sue und ich eng befreundet waren, wusste ich nicht viel über ihre Familie. Ich wusste nur, dass sie eine Schwester hatte und mit ihrer Mutter nicht klarkam, was auch einer der Gründe gewesen war, weshalb sie nach Hertfordshire gezogen war. Später verriet Sue mir, dass David ihr Vater war, der vor ein paar Jahren gestorben war. Das hatte ich nicht gewusst. Es war das erste Mal, dass ich sah, zu was Nan Frances fähig war, und ich staunte über die starke Energie, die ich während dieser Erfahrung spürte.
Ein paar Wochen später war ich an der Reihe. Ich besuchte wieder einmal meine Großmutter. Unvermittelt sagte Nan: »Lisa, ich muss dir die Karten lesen.« Natürlich weckte das meine Neugier und so ließ ich es zu. Dann sagte sie etwas, das ich