Schöner fremder Himmel. Marco Frohberger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marco Frohberger
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783937881935
Скачать книгу
Waage.

      „Stell dich da drauf.“

      Die Kleine lächelte unsicher, ihr Mund entblößte eine Zahnlücke. Sie erinnerte Bilal an seine eigene Tochter, als sie in dem Alter gewesen war. Er nickte ihr aufmunternd zu. Sie trat vorsichtig auf die Glasplatten.

      „17 Kilo“, sagte Bilal, nachdem der Zeiger zu zittern aufgehört hatte. „Das macht eine halbe Million.“

      „Sie ist viel zu dünn“, sagte die Mutter verärgert, „komm“. Sie gingen ohne zu bezahlen.

      „He, was ist mit meinem Geld?“, brummte er, doch in diesem Moment ratterte die Straßenbahn vorbei und verschluckte seinen Einwand.

      „Unverschämt.“ Aslan biss in einen Sesamkringel.

      Bilal zuckte mit den Achseln und schaute durch die bunte Straßenschlucht auf den Bosporus hinunter; ein Dampfer tutete. Er liebte die Morgenstimmung, wenn der Tag noch so frisch war. Der Hafen, die Seeluft; er hätte nie aus seiner Stadt wegziehen wollen.

      Noch vor Kurzem war er neben der Brücke Angeln gegangen, bis seine Frau die Ausrüstung in die Mülltonne geworfen und von ihm verlangt hatte, er solle statt ungenießbarer Fische zur Abwechslung ein wenig Geld nach Hause bringen, sie wolle endlich wieder mal mit der Tochter shoppen gehen und nicht ständig in alten Kleidern herumlaufen. Doch als er ihr seine Investition gezeigt hatte, war es auch nicht recht gewesen.

      Ein beleibter Mann schlenderte an ihnen vorbei und aß im Gehen aus einer Papiertüte Pommes.

      „He Gürkan, du solltest dich mal wieder wiegen!“, rief Bilal. Der Dicke war mit ihm im Viertel aufgewachsen; er betrieb seit Jahren ein Schnellrestaurant unten am Hafen. Sein Vater hatte eine Zuckerbäckerei besessen, wodurch Gürkan die feinsten Leckereien in Hülle und Fülle hatte – und jede Menge Freunde.

      „Will’s gar nicht wissen“, winkte er ab.

      Der Teejunge kam vorbei. Bilal nahm zwei Gläser vom Tablett und reichte eines davon an Aslan weiter, der ihm im Gegenzug einen Kringel mit Serviette anbot. Der Cay schmeckte kräftig und süß. Bilal gab dem Jungen ein paar Münzen. Drüben stimmte der Saz-Spieler ein Tanzlied an. Eine Gruppe Touristen blieb stehen und bewegte sich klatschend zur Musik.

      „Grauenvoll“, kommentierte Aslan und ging in die Hocke.

      „Um was willst du wetten?“, fragte Bilal.

      „Eine Flasche Raki.“

      „Abgemacht.“

      Sie schlugen ein.

      Neben dem Brunnen fütterte eine Frau in langen, fließenden Gewändern die Tauben. Bilal rieb sich die Augen und zuckte zusammen. Das war tatsächlich Esin! Sie waren zusammen zur Schule gegangen. Wie flott sie immer noch aussah. Er steckte sein Hemd in die Hose.

      Mangels Taschengeld hatte sich Bilal damals mit Gürkan angefreundet, nur um der Schönen Lokum zu schenken, dem sie nicht widerstehen konnte; zuvor hatte er mit einer Nadel Gedichte in das hauchdünne Packpapier eingeritzt. Esin liebte die Geleewürfel mit Rosengeschmack, Pistazien und Ingwer. Wie gerne hätte er ihr damals diese Kostbarkeiten zwischen ihre Lippen auf die Zunge gelegt. Doch sie war bereits einem anderen Mann versprochen gewesen, von dem sie sich, was man so hörte, später hatte scheiden lassen.

      Esin schüttelte die Plastiktüte mit dem Futter aus und wandte sich zum Gehen. Bilal fingerte einen Kamm aus der Hosentasche und fuhr durch sein feines Haar.

      „Olala, der Morgenwind kommt“, spielte er auf die Bedeutung ihres Namens an.

      „Bilal.“ Sie zog eine Augenbraue hoch. „Verkaufst du keine Motorroller mehr?“

      Ihr Gesicht war rundlicher geworden und die Grübchen in den Wangen hatten sich vertieft. Aber in ihren Augen glomm immer noch ein Funke. Diese Frau war seine Inspiration gewesen, und wenn er sie bekommen hätte, wer weiß, vielleicht wäre er ein Dichter geworden. Er hatte damals an Schlaflosigkeit gelitten und oft Verse reimend in den Nachthimmel gestarrt, als ob sein Schicksal auf diese Weise zu wenden gewesen wäre. Doch es war lange her und er wischte die Erinnerung weg.

      „Der Laden lief nicht mehr so gut wie früher und mein Sohn wollte ihn nicht übernehmen“, sagte er.

      Esin lächelte. „Die jungen Leute haben andere Sachen im Kopf.“

      Sie sah aus wie ein Ölgemälde.

      „Was ist mit dir?“, fragte er nach.

      „Ich komme über die Runden“, sagte sie. „Halte mich bei reichen Leuten mit Putzen über Wasser.“

      Sie schaute auf die Waage. „Findest du, dass ich zugelegt habe, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben?“

      „Kaum.“

      Keine Frage, sie würde immer ein Prachtweib sein. Sie stieg auf die Waage, die 98 Kilo anzeigte, doch man konnte es auch andersherum lesen. „86.“

      „Ach Bilal“, sagte sie. „Du hast dich keinen Deut verändert.“ Sie hielt ihm einen Geldschein hin. „Das stimmt so.“ Er schüttelte den Kopf. „Tamam.“

      Thomas Krause

      Der Chemiebaukasten

      Dauernd scheitert alles im Leben (also, mal grob vereinfacht) an Missverständnissen.

      Wenn ich später (oder früher, bei all den kleinen Pannen) mal da oben hinkomme, werde ich die große Chefetage fragen:

      „Meister/​-in, wie kamst Du eigentlich auf die Idee, ein kurioses Gebilde wie die Erde zu bauen und mit solchen Leuten wie uns zu bevölkern?”

      Und dann antwortet The Big Boss:

      „Also, Kerl, das war alles nur ein Missverständnis. Ich spielte einfach so mit meinem neuen Chemiebaukasten und plötzlich machte es bumm – und da wart ihr. Und da am siebten Tag ja nicht gearbeitet werden durfte, um die Fehler vom sechsten auszubügeln, da bliebt ihr halt.“

      Mitra Gaast

      Somewhere in Belgium – Der gläserne Tag

      Diesen Ausflug unternahmen sie nicht zum ersten Mal.

      Als sie ankamen, staunten sie über den schönen blauen Himmel. Nur ein paar weiße Wolken, wie riesige Wattebäusche, wanderten über die Stadt. Sie sahen aus wie auf Kindermalereien: runde Figuren mit aufgeplusterten Backen, die einander jagten, oder wie Sahnehäubchen, nach unten immer flach abgeschnitten, eine einfache deutliche Linie zwischen Blau und Weiß. Schönwetterwolken, mit rasch veränderlichen Formen. Der Wind, der in den Wolken wühlte und sie jagte, pfiff auch in den schmalen, samstäglich belebten Straßen. Auf dem holprigen Steinpflaster machten die Autoreifen ein dumpfes Geräusch. Der Wind blies in die Jacken der Männer, bauschte sie am Rücken auf, wehte Frauen die Haare über die Schultern und drückte ihre Kleider an ihre Leiber. Alle Umrisse waren sichtbar.

      Auch ihr enger Rock drückte sich an ihre Schenkel, wie ein Blatt, das vom Wind hergeweht und an ihr jetzt haften geblieben war. Hinten die Rundungen des Gesäßes, die Waden schlank und weiß in seidenen Strümpfen. Auf einem Bein, auf dem linken, obwohl sie Rechtshänderin war, stand sie vor einem Schaufenster, den rechten Fuß verspielt um die linke Ferse geschmiegt. Die Glasscheibe war riesig, blank geputzt, so sauber, als könne man durch sie hindurchgehen.

      „Gläsern“, dachte er bei sich, „heute ist alles gläsern! Aber was zum Teufel heißt das?“

      In der Glasscheibe waren der Himmel und diese irgendwohin eilenden Wolken, die Autos, die in ihrem Rücken vorbeihuschten, dunkel, schnell, ohne Definition, genauso wie die Passanten mit dem monotonen Klack-Klack ihrer Schritte. Und allem voran ihre zwei Gesichter, sie, die sie aufmerksam in das Schaufenster schaute, und er, der er ihr Bild ansah. Ihr Gesicht war blass und diffus in der Scheibe, wenn auch mit roten und vollen Lippen. Zwischen ihren Brauen eine Falte, die jedes Mal zum Vorschein kam, wenn sie den Kopf näher