Schöner fremder Himmel. Marco Frohberger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marco Frohberger
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783937881935
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heran, aber da hörte der Stuhl zu wippen auf, richtete seine beiden vorderen Beine wieder gerade, setzte sie auf den Boden und rührte sich nicht mehr. Seine Lehne schien jetzt blasiert und unbeteiligt aus dem Fenster zu sehen. Ich blieb noch eine Weile mit gesenkten Lidern und ohne mich zu bewegen stehen, wobei ich den Stuhl genau beobachtete, ohne ihn direkt anzusehen. Aber die Lehne veränderte ihren Ausdruck nicht, und Anzeichen einer Bewegung waren auch nicht mehr zu erkennen, so dass ich irgendwann meinen Heimweg fortsetzte, während mir der Stuhl und das, was ich gerade gesehen hatte, nicht aus dem Kopf gehen wollte.

      Auch in den nächsten Tagen musste ich zwischendurch immer wieder an diesen Stuhl und sein ungewöhnliches Verhalten denken, und als ich wieder einmal in der Nähe war, bog ich in die Straße ein, in der das Antiquitätengeschäft liegt, in dem ich ihn gesehen hatte, sah, dass er noch immer auf demselben Platz im Schaufenster stand, und ging in den Laden.

      Ich sagte dem Verkäufer zuerst, ich wolle mich nur etwas umsehen, schlenderte durch die Gänge, schaute mir einen Kirschbaumsekretär näher an, blieb bei einer silbernen Teekanne einen Augenblick stehen und näherte mich auf diese Weise langsam dem Stuhl. Weil ich nicht direkt nach dem Preis fragen wollte, sagte ich wie beiläufig: „Und was ist das hier für ein Stuhl?“ Der Verkäufer schien nur auf meine Frage gewartet zu haben und erzählte mir, der Stuhl sei ein englisches Möbel aus den 1870er Jahren, ein „Smee & Sons“ und wahrscheinlich von E. W. Godwin entworfen, was mir beides gar nichts sagte. Der Mann erging sich in weiteren Einzelheiten, die ich vergessen habe, und tat das, wie mir schien, um den Preis zu rechtfertigen, den er mir anschließend nannte. Ich fand diesen Preis sehr hoch und wollte Einwände erheben, aber ich sah den Stuhl an, und es schien mir, als ob auch er mich anblickte. Da war es mir peinlich, in seiner Gegenwart um ihn zu feilschen; ich akzeptierte den Preis und machte den Handel perfekt.

      Als der Stuhl dann am darauffolgenden Tag gebracht wurde, stellte ich ihn in mein Bücherzimmer, setzte mich in den bequemen Ledersessel, der meiner Neuerwerbung nun gegenüber stand, und betrachtete ihn. Ich hatte plötzlich das Bedürfnis, ihm einen Namen zu geben, und fand, dass Albert ein passender Name für ihn wäre – und zwar mit englischer Aussprache, also „Ålbört“, weil er ein englisches Möbel ist. Ich sagte an diesem Abend also zu ihm: „Na, Albert, hier bist du nun zu Hause“, und vertiefte mich dann in meine Zeitung, denn ich wollte nicht zu aufdringlich sein.

      Natürlich warte ich seitdem gespannt darauf, dass Albert irgendwann wieder die Beine übereinander schlägt, so wie ich es in dem Schaufenster gesehen habe, aber ich bin mir darüber im Klaren, dass er sich erst einmal an seine neue Umgebung gewöhnen muss. Ich will ihn nicht drängen und denke, wenn er sich richtig eingelebt hat und bei mir heimisch geworden ist, wird das schon von selbst kommen.

      Und so begrüße ich Albert jeden Abend, wenn ich ins Zimmer komme mit ein paar freundlichen Worten, nicke ihm zu, setze mich ihm gegenüber in den Sessel, lese – genauso wie ich es auch sonst getan habe – in der Zeitung oder in einem Buch, trinke ein Glas Wein dabei und sehe hin und wieder zu Albert hinüber. Und – ob Sie es glauben oder nicht – obwohl ich eigentlich das Gleiche tue, was ich all die Abende zuvor auch ohne Albert getan habe, kommen mir die Abende jetzt gemütlicher vor als früher. Ich habe das Gefühl, dass Albert eine große Gelassenheit ausstrahlt, und das muss sich irgendwie auf mich übertragen, denn ich fühle mich in seiner Gesellschaft entspannt und ausgesprochen wohl.

      Entschuldigen Sie, Herr Skepinski, aber ich rede die ganze Zeit über Albert, und Sie haben ihn noch gar nicht kennengelernt. Kommen Sie doch einfach mal mit, ich werde Ihnen Albert vorstellen. Warten Sie, hier entlang! Das hier ist meine „Bücherhöhle“, und das ist Albert. – Albert, das ist Herr Skepinski, ein guter Bekannter von mir.

      Was sagen Sie? Ganz nett, aber nichts Besonderes? Ich bitte Sie, immerhin ist er von E. W. Godwin entworfen, einem nicht ganz unbedeutenden Möbeldesigner seiner Zeit, ich habe mich da inzwischen kundig gemacht. Albert ist ganz ohne Zweifel ein ausgesprochen schönes Exemplar der Gattung Stuhl. Obwohl es darauf ja eigentlich gar nicht ankommt, denn er hat andere, viel tiefer liegende Qualitäten, wie ich Ihnen ja vorhin … Nein, bitte um Gottes Willen nicht hinsetzen! Ich kann mir nicht vorstellen, dass Albert das gerne hätte. Ich selbst habe mich noch nie auf ihn gesetzt, das würde ich mir nicht verzeihen, dazu achte ich ihn als Persönlichkeit viel zu hoch. – Da brauchen Sie gar nicht so zu grinsen! Ich habe Ihnen Alberts Geschichte doch erzählt. Albert ist etwas Besonderes, kein normaler Stuhl. Ich versuche seit Wochen, sein Vertrauen zu gewinnen, und Sie sind derart unsensibel. Also wirklich! Kommen Sie, wir gehen wieder ins andere Zimmer, und … Ja, entschuldigen Sie, dass ich gerade etwas heftig geworden bin. Aber auch wenn Sie alles, was ich Ihnen vorhin erzählt habe, für Mumpitz halten, so ist die Geschichte doch wahr und hat für mich eine große Bedeutung. Wenn Sie keinen Sinn dafür haben, lassen Sie uns also lieber von etwas anderem reden. – Sie müssen ohnehin jetzt weg, sagen Sie? Aber bitte nicht deswegen! – Wirklich nicht? Na gut, dann auf Wiedersehen, Herr Skepinski, wir telefonieren miteinander!

      So Albert, der ist weg. Na, was sagst Du dazu? Wollte sich einfach auf Dich setzen, der Kerl! Was er sich wohl dabei gedacht hat? Da erzähle ich ihm die ganze Geschichte, und er …! Am Ende hätte ich gar nicht darüber sprechen sollen, was meinst Du? Hast Du sein debiles Grinsen gesehen? Sollte wohl überlegen wirken. Ich hätte wirklich gedacht, dass er ein bisschen mehr begreifen kann, als dass eins und eins zwei ist. Wie man sich doch in einem Menschen täuschen kann. Weißt du, Albert, ich kann mich jetzt richtig ärgern, dass ich ihm diese Sache erzählt habe. Eigentlich geht sie doch nur uns beide an. – Ach was! Ich schenke mir jetzt noch einen Wein ein und dann denken wir zwei an etwas anderes, nicht wahr?

      Nach einer Weile ist mein Glas halb leer. Ich bemerke, dass sich in Alberts Richtung etwas bewegt und schaue von meinem Buch auf. Ganz allmählich streckt er seine vorderen Beine aus und schlägt sie übereinander. Dann beginnt er langsam und regelmäßig auf den beiden hinteren hin und her zu wippen.

      Ich sehe ihm zu, und für einen kurzen Moment steht mir das Herz still vor Freude und Glück. Dann nehme ich noch einen Schluck Wein und sage zu Albert: Du hast ja recht, wir lassen uns den Abend nicht verderben, von allen Skepinskis der Welt nicht!

      Angela Kreuz

      Tamam

      „Wenig los heute, was?“

      Aslan setzte den dreirädrigen Karren mit den Sesamkringeln ab und schob sich die Mütze aus der Stirn. Am Himmel war keine Wolke zu sehen und die Sonne schien bereits intensiv; es würde ein heißer Tag werden.

      Bilal saß mit gegrätschten Beinen auf einem Plastikhocker, die faltigen Hände auf die Knie gestützt. Vor ihm lag ein abgewetzter Kelim, darauf eine Personenwaage. Bilal guckte für einen Moment griesgrämig drein, doch dann hellte sich sein Gesicht auf.

      „Hast du schon was verkauft?“, erkundigte er sich, obwohl er mit einem Blick sah, dass von dem perfekten Arrangement kein einziger Kringel fehlte. Er hatte noch gute Augen für sein Alter.

      „Bis jetzt nicht.“

      Ein paar Möwen segelten über dem Platz und kreischten. Auf der Parkbank gegenüber spielte ein Langhaariger Saz.

      „Der Junge macht mit dem Geklampfe in einer Stunde mehr Geld als wir beide zusammen an einem Tag.“

      Aslan hatte sein halbes Leben auf Hochzeiten gespielt und war ein gefragter Mann gewesen. Aslan ist der Beste. Er hatte Generationen von Jungen das Saz-Spielen beigebracht. Doch seit der Sache mit seiner linken Hand war ihm nichts anderes übrig geblieben, als die Musik aufzugeben.

      „Glaub ich nicht.“ Bilal zog die Nase hoch.

      Die Waage glänzte in der Morgensonne. Sie war ein solides Modell aus Chrom und grünen Glasplatten und die Anzeige ähnelte dem Tachometer eines Oldtimers. Bilal fischte ein Stofftuch aus seiner Westentasche, beugte sich nach vorne und polierte das Metall. Das Gerät hatte ein kleines Vermögen gekostet, doch wenn er damit gute Geschäfte machte, würde er es in ein paar Monaten abbezahlt haben und danach die Gewinne einfahren. Manchmal brauchte man einfach Geduld. Seine Frau würde das nie verstehen.

      Er wischte sich den Schweiß von der