Schöner fremder Himmel. Marco Frohberger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marco Frohberger
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783937881935
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genauso durcheinander gewirbelt und fortgetragen wie die weißen Wolken.

      „Ein gläserner Tag“, dachte er bei sich, „der Tag ist gläsern, aber was heißt das bloß?“

      Sie streckte ihre Hand aus, wies mit dem Zeigefinger auf irgendetwas im Schaufenster. Die Hand war schmal, blass, die kleinen Knöchel hoben sich spitz ab, angespannte Sehnen, dünne blaugrüne Adern tänzelten nervös unter der dünnen Haut. Der Nagel des Zeigefingers, der einzige, den er sah, war lang, in perfektem Bogen gefeilt, unter einem schönen roten Lack. Die Spitze des Fingers berührte die Glasscheibe, zeigte auf sein eigenes Spiegelbild: ein Zeigefinger, der auf einen Zeigefinger zeigte.

      „Gläsern vielleicht“, ging ihm durch den Kopf, „wie Glas dieser Tag, weil er das Licht bricht, so dass man überall sein eigenes Antlitz sieht?“

      Ihre roten, vollen Lippen bewegten sich noch einmal, sogar die Zähne wurden sichtbar, ein Lächeln wohl, warum, hatte er nicht mitbekommen. Sie sah ihn kurz an, sprechend, ihre Worte verweht im Wind, er sah ihre sanften blauen Augen, glänzend, wie gläsern.

      „Gläsern heißt“, sagte er zu sich selbst, „gläsern, weil es ist, als würde ich selbst hinter einer Glasscheibe stehen, als würde die Glasscheibe mich trennen, mich umgeben wie ein geschlossener gläserner Zylinder, und ich mittendrin, nur oben ist frei, und da ist der Himmel mit diesen zerwühlten irgendwohin eilenden Wolken?“

      Sie blinzelte im Wind, wieder die Falte zwischen ihren Brauen, wie eine Erscheinung, sofort wieder verschwunden. Ihre Hand umgriff die seine, zog ihn sanft.

      Sie überquerten Kreuzungen, bogen um Ecken, gingen durch Straßen, alle schmal, schattig und kühl, zu beiden Seiten mehrstöckige alte Häuser, hunderte Jahre alt, mit ihren Säulenfassaden, Ornamenten und Inschriften, in den allseits geschlossenen Sprossenfenstern der Himmel und die Wolken. In den Erdgeschossetagen immer Läden, exquisite, mit glänzenden Böden in den Eingängen und ernsthaft in die Ferne blickenden Schaufensterpuppen hinter diesen blitzblanken Glasscheiben, die bis unter die hohen Decken reichten. Waren alle edel, Stoffe kostbar, Schnitte meisterhaft, und Namen mit einem Klang, den die Welt kannte. Und dazwischen, in den Scheiben, immer wieder sie beide, ein Paar, weiß Gott ein schönes, in Bewegung, immer wieder ein Stück einander näherkommend, dass die Stoffe der Jacken sich berührten, und im nächsten Augenblick wieder auseinandergehend, mit rasch veränderlichen Formen.

      Der Himmel hatte sich zugezogen. Der Wind blies ihm in die Augen, in die Wimpern, in die Ohren. Für diesen Tag war er sicher nicht warm genug angezogen. Er ging, wenn sie ging, und blieb stehen, wenn sie stehen blieb. Ihre Absätze klackten auf dem Pflasterstein genauso wie die all der anderen Passanten. Sie waren viel zu hoch. Ein Wunder eigentlich, dass diese schmalen Stifte das bewegliche Gewicht trugen, das um sie wie um eine Achse umher wackelte und bei jedem Schritt deutlich eine zittrige Unsicherheit verriet. Oder kam es nur ihm so vor?

      Einmal blieb sie kurz stehen. Ihre Brauen sprangen hoch, ihre schmale Hand mit den Nägeln unter dem roten Lack legte sich vorsichtig auf das rote fleischerne „O“, das ihr Mund jetzt war, in ihren Augen war vielleicht Begeisterung. Sie zeigte irgendwohin. Dann wandte sie sich abrupt ab und stelzte zur anderen Straßenseite. Als sie sich umdrehte, schlug der Wind ihre Haare in sein Gesicht.

      Im Schaufenster der Confiserie lag Süßes, akkurat geformt zu Pralinen und Torten, in Rosa, Pistaziengrün und Mocca, manchmal in zwei oder drei Etagen übereinander wie kleine Schlösser. Sie zeigte auf dies und jenes und sprach. Die Tür des Ladens ging ständig auf und zu, Menschen gingen ein und aus, und jedes Mal klang das fast unaufhörliche Geklapper der dünnen metallenen Stäbe, die über der Tür hingen, wie ein ferner Alarm.

      „Gläsern heißt“, sagte er zu sich selbst, „gläsern vielleicht, weil er zerbrechlich ist? Dieser Tag ist zerbrechlich, als würde jeden Augenblick eine ungeahnte Spannung das Glas, den Tag zersplittern, zersprengen, zerschmettern, mit einem schrillen Krach, aus seiner Mitte heraus, zu milchig weißem Glaspulver zerstäuben?“

      Sie sah zum Himmel. Sie zeigte mit der Handkante entlang der Straße. Sie sprach. Der Wind hatte ihre Lippen ausgetrocknet, trug wieder ihre Worte davon. Sie gingen lange in die Richtung, für die sie sich entschieden hatte. Irgendwann tat sich eine kurze Passage unter einem Bogendach auf. Sie schwenkte neugierig hinein. Ihre Schritte hallten unter dem Bogen, der Schall brach sich an den Wänden, sie schaute sich begeistert um, sah zu den Wänden, der Decke, dem Boden, und sie lachte.

      „Gläsern vielleicht“, dachte er bei sich selbst, „gläsern vielleicht, weil es so ist, als wäre man unter Wasser? Alles sichtbar, deutlich und klar, aber nicht alles hörbar, nicht einmal dumpf und mit Verzögerung? Gläsern, unter Wasser? Gibt es eigentlich flüssiges Glas?“

      Bei dem Gedanken musste er lachen, und zufällig schaute sie ihn da an, und zufällig lachte sie da auch. Zufällig lachten sie einander fröhlich ins Gesicht, wie zwei Glückliche.

      „Oder gläsern heißt vielleicht“, dachte er bei sich, „dass man heute hinter die Dinge schauen kann? Oder durch sie hindurch?“

      Ihre Finger drückten seine Hand, ein paarmal, sie schüttelte sogar leicht seinen Arm.

      Dann traten sie in einen großen Innenhof. Zu allen Seiten gab es Passagen, die wieder hinaus führten. Sie löste ihre Hand aus der seinen, ging umher. Der Boden war mit groben Steinen bepflastert. Sie streckte beide Arme seitlich aus, balancierte riskant auf ihren Stöckelschuhen. Sie lachte und sprach. Rund um den Hof waren Pflanzen, an den Wänden rotes Weinlaub, ein paar wenige kleine Handwerksläden waren da, Keramik, Schmuck, Spitze, hier und da ausgefahrene Markisen. In einer Ecke war ein Brunnen mit einer kleinen steinernen Gruppe von Figuren. Sie stellte sich vor den Brunnen, regungslos, recht lange, kam es ihm vor, mit dem Rücken zu ihm, als hätte sie ihn plötzlich vergessen. Dann ging sie zu den Schaufenstern …

      „Gläsern vielleicht“, dachte er bei sich selbst, „gläsern, weil es ist, als könnte man hindurchgehen durch diesen Tag, ihn passieren, obwohl dem nicht so ist?“

      Er spazierte herum, rund um den Hof, schaute hoch zu den alten Mauern, zu den Fenstern, zum roten Laub. Er schaute in eine Passage hinein und dann wieder zurück. Sie stand vor einem Schaufenster, wieder nur auf einem Bein, dem linken, das rechte verspielt hinter das linke gekreuzt. Er spazierte weiter, ging zur nächsten Passage, ging ein Stück hinein, lauschte dem Hall seiner eigenen Schritte, kam wieder zurück. Sie stand immer noch da. Er ging wieder um. Einmal blieb er vor dem Brunnen stehen, starrte hinein und sah auf der Wasseroberfläche die Ringe, die die fallenden Regentropfen um sich zogen. Er schaute zurück. Sie war zu einem anderen Schaufenster gegangen, stand unter einem Dachvorsprung, mit rotem Weinlaub bedeckt. Er spazierte weiter, ging zu einer anderen Passage, ging diesmal hinein und bis zum Ende. Es kam ihm so vor, als wäre es eine lange Passage. Am Ende, als er auf die Straße hinaustrat, schlug ihm ein heftiger Windstoß einen Schwall Wasser ins Gesicht, wie um ihn zu Bewusstsein zu bringen. Es war dunkel geworden, mitten am Tag, und es regnete. Er ging weiter.

      Wahrscheinlich ging er nur um den Block, oder zumindest durch dieselben Straßen, die er heute schon einmal gesehen hatte. Zum Beispiel kam er an einer Confiserie vorbei, vor deren Schaufenster ein Paar stand, eine Frau, die auf Pralinen zeigte und etwas sagte, und ein Mann, der zuhörte, vielleicht. Er kam auch zurück in den Hof. Da war er schon durch und durch nass geworden, die Steine gefährlich glatt, das Weinlaub wie gewaschen, von den Markisen tropfte Wasser, der Regen hatte aufgehört, und sie, sie war nicht da. Unter den Markisen nicht, vor den Schaufenstern nicht, in den Geschäften, vor dem Brunnen, in den Passagen nicht, sie war nicht da.

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