Schöner fremder Himmel. Marco Frohberger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marco Frohberger
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783937881935
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72 Stunden Akkulaufzeit. Ich verfluche Filme wie Into The Wild, die uns dieses romantische Naturbild in den Kopf gepflanzt haben, während wir das Ultra-Light-Zelt direkt an einem Flusslauf aufbauen. Ein unangenehmes Gefühl der Haltlosigkeit macht sich bemerkbar. (Wo sind die Menschen? Reklametafeln? Bläulich schimmernde Fenster? Motorengeheul? Pagenschnitte?) Auch wenn wir mit niemandem sprechen wollen, wenn wir abends die Wohnung verlassen, fühlt es sich doch behaglich an, zwischen den Fremden, die wir dann stets verfluchen und kaltblütig erschießen wollen (auch die Schwangeren, oder vor allem die Schwangeren), und jetzt sind wir völlig allein, in der skandinavischen Ödnis, völlig frei und unabhängig, nicht mal mehr an den anderen gebunden, unabhängige Körper mit Verdauungssystemen, emotional getrennt, in der absoluten Freiheit, am Flusslauf, zwischen kargen Bäumen, Mücken, Moos und Flechten, in der Jack Wolfskin-Werbung.

      Wir kriechen ins Zelt und es wird kälter, doch die Sonne scheint niemals unterzugehen. Ich wünsche mir mein Bett oder zumindest eine Heizung. Wenn ich mich nach rechts drehe, berührt meine Wange die durchnässte Zeltwand, meine Zehen werden taub. Ich frage mich, ob uns das doch wieder zusammenschweißt und wir den neuen Partnern doch sagen, wir hätten uns geirrt und es war alles nur eine noch größere Illusion als die Illusion von mir und dem Mediziner, bis ich schließlich einschlafe und von blaugestreiften Löwen träume, die mir aufs Gesicht spucken, aber es ist nur das Kondenswasser, das von der Zeltdecke tropft. Neben mir liegt der Mediziner, eingemummelt in blauen Synthetikstoff, mit genauso blauen Lippen. Er sieht so friedlich aus, fast als wäre er tot. Zärtlichkeit überfällt mich und ich möchte seine Lippen berühren, stattdessen schäle ich mich aus dem Plastikbunker und suche einen Ort an dem ich pinkeln kann, was überall möglich ist, weil hier niemand, wirklich niemand ist, wir sind völlig allein in der Natur, der Fluss plätschert sanft, ganz ohne Stadtflussgehabe, Schleusen und Strandbäder. Mir fällt auf, dass das Zelt eingefroren ist.

      Lass uns zum Auto zurückgehen, schlage ich vor und strecke meinen Kopf durch den Reißverschluss. Der Mediziner sagt, er möchte eigentlich lieber weiterschlafen, dabei bewegt er sich kaum. Vermutlich befindet er sich in der zweiten Unterkühlungsphase, von ihm geht dieses bläuliche Schimmern aus, darum treibe ich ihn gewaltsam aus dem Zelt, packe alle Sachen zusammen und muss ihm gut zureden, damit wir den Weg zurück zum Audi schaffen. Das Unterholz fühlt sich an wie Schnee, in den wir einsacken und uns wieder befreien müssen. Mir schießt die Dokumentation über südamerikanische Männer in den Kopf, die um ein kaputtes Flugzeug im Schnee sitzen und winzige, gefrorene Fleischfetzen mit scharfen Gegenständen von leblosen Körpern schnitzen, um nicht zu verhungern.

      Ich lasse mich auf die Fahrerseite fallen und schalte die Sitzheizung an. Der Mediziner sitzt lethargisch neben mir und greift nach meiner Hand. Langsam wird es warm, der Morgen fließt so ruhig dahin wie dieses ganze verdammte Land mit seinen rothaarigen Wikingern und Postkarten. Wir bleiben einfach sitzen und betrachten die wippenden Baumkronen, gleißendes Sonnenlicht fällt auf die Motorhaube. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wie wir wirklich ein Pärchen geworden sind und warum wir uns wirklich verliebt haben. Es war wohl einer dieser schleichenden Prozesse, die sich aus regelmäßigem Geschlechtsverkehr entwickeln. Jetzt sitzen wir im tiefsten Norwegen und lassen uns den Arsch wärmen.

      Den restlichen Tag verbringen wir an einem Strand. Neben dem Mediziner liegt Jack London, er hat sich in den Schneidersitz gesetzt und blickt aufs Meer, lässt seine Glieder von der Sonne bestrahlen, bis die letzte Nacht einfach weggebrannt ist. Ich sitze im T-Shirt vor ihm und zupfe Gras, während er über Alaska spricht. Sein Flug geht in vier Wochen. Der Mediziner fliegt ohne mich, um diesen Selbstfindungstrip durchzumachen, durch die echte Wildnis zu rennen und mit seiner Hand über unberührte Moose zu streichen. Vielleicht haben wir uns deswegen getrennt, weil der Mediziner in Alaska wirklich alleine sein will, so wie ich wirklich alleine in der Stadt das biologische Sorbet löffeln will. (Wobei ich ja eigentlich mit dem Grafiker zusammen allein sein will.)

      Der Strand füllt sich mit norwegischen Paaren in den mittleren Jahren, die ihre eigenen Campingstühle mitbringen, lesen und schweigen. Ich lasse meinen Blick über das Meer schweifen, die Wellen sind ganz ruhig und schwappen monoton auf den Sand, so monoton wie die elektronische Loungemusik, die am Samstag in der Kneipe lief, in der ich dem Grafiker zwei Aperol Spritz spendiert habe. Der Mediziner war offiziell alleine oder mit der Medienmanagerin unterwegs. Der Grafiker stand ganz bedächtig neben mir und hat an seinem rotgefärbten Getränk gesaugt und über seine neue Stelle als Art Director gesprochen. Das scheint mir besser zusammenzugehen: Die Kulturschaffende und der Grafiker ist irgendwie seichter, runder und angenehmer, als die Kulturschaffende und der Mediziner, mehr wie ein Städteurlaub und nicht wie ein Outdoortrip. Dass ich mich noch mit dem Mediziner treffen werde, um Sorbet zu essen, steht außer Frage, dafür verstehen wir uns zu gut, aber eben auf eine andere Art und Weise, ohne das Fickgefühl und mit geschwisterlicher Vertrautheit.

      Und beim Anblick von drei Schwänen, die über die Wellen reiten und sich stetig nähern, wird plötzlich alles so elementar in dieser Einsamkeit, ein Gefühl von purer Isolation oder gnadenloser Abgrenzung, wie ein Gefängnis, so grau wie Elefantenhaut, nichts mehr von dem glühenden Orange des Mangosorbets, das so weit weg scheint. Ich denke, dass ich wahnsinnig werde hier am Meer und die Schwäne töte oder den Mediziner. Warum auch nicht, ich könnte zurückfliegen bis sie mich finden, wenn ich mein Eis auf der Hauptstraße löffle und die geschäftigen Tiere an mir vorbeihuschen, auf ihrem Pilgerzug zum Supermarkt, ob mit oder ohne Mediziner spielt auch keine Rolle mehr, seit die Liebe vorbeigezogen ist wie ein grauer Vogelschwarm oder schon immer einer gewesen ist.

      Ich betrachte den Mediziner, der auf der Isomatte liegt und liest, ganz ruhig und bedächtig, als wäre er ein atmender Stein, ein totes Wesen mit Augen und einem Puls, ohne jegliche Spur von Leidenschaft oder Zerbrechlichkeit. Ein bisschen ausgesaugt, und dann dieses Gefühl, dass es schon immer belanglos war, noch nie anders, und dieses kurze Aufflammen von Ratlosigkeit und Verlorenheit, nur eine Reflektion der Wildnis, in der es kein Mangosorbet gibt und die Ameisen in Kaufhausmode fehlen, vor allem der Grafiker, der Pixel über den Bildschirm schubst und dem das Verliebtsein noch nicht ausgesaugt wurde.

      Die Nacht bleibt hell. Wir schlafen im Auto und fahren direkt zum Flughafen, auf einer Straße, die dahin fließt wie der Amazonas, in dem sich Piranhas an ihre bunten Koffer klammern und nach öffentlichen Toiletten Ausschau halten.

      Rolf Polander

      Albert

      Lieber Herr Skepinski, ich sage es am besten gleich: Natürlich hatte ich an dem Abend, von dem ich Ihnen jetzt erzählen werde, etwas getrunken. Ich bin in einem Restaurant zum Abendessen gewesen und – na, Sie kennen mich – ich werde doch nicht irgendwo zu Abend essen, ohne ein Glas zum Essen zu trinken. Es kann auch durchaus sein, dass ich, wie ich es hin und wieder tue, nach dem Essen noch ein bisschen sitzen geblieben bin und noch zwei oder drei Glas über das Essen hinaus getrunken habe, das alles will ich gar nicht abstreiten. Aber, Herr Skepinski, ich sage Ihnen, dass ich ganz bestimmt nicht betrunken war, als ich dann nach Hause ging, dass also das, was ich auf dem Nachhauseweg erlebt, oder besser gesehen habe, mir nicht von einem alkoholisierten Gehirn vorgespiegelt wurde, sondern dass ich es tatsächlich gesehen habe, gerade so wie ich Sie jetzt vor mir sehe.

      Ich ging also langsam durch die nächtliche Stadt nach Hause, und zwar durch diese Straße – Sie werden sie kennen –, in der ein Antiquitätengeschäft neben dem anderen liegt. Im Vorbeigehen schaute ich immer mal wieder in die Schaufenster hinein, aus denen – von der Nachtbeleuchtung erhellt – das matte Furnier alter Möbel glänzte, in auf schwarzem Samt ausgelegtem Granat- und Straßschmuck Lichter aufblitzten und die blassen Gesichter von Gips- und Marmorbüsten mich ernst ansahen.

      Plötzlich nahm ich in einem der Fenster eine Bewegung wahr – und da sah ich ihn: einen Stuhl aus dunklem, rötlich schimmerndem Holz, der langsam auf den hinteren Beinen hin und her wippte, während er die vorderen, als ob sie mit Gelenken versehen wären, übereinandergeschlagen hatte. Ich war einigermaßen perplex, denn wer hat schon jemals einen Stuhl gesehen, der ein Beinpaar übereinander schlägt und, ohne dass jemand auf ihm sitzt, auf dem anderen hin und her wippt. Die Lehne mit ihren Verstrebungen erinnerte dabei