Zwei Freunde. Liselotte Welskopf-Henrich. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Liselotte Welskopf-Henrich
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Историческая литература
Год издания: 0
isbn: 9783957840127
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Die braunen natürlichen Locken flogen um die gewölbte Frauenstirn, und die zierlichen Nasenflügel öffneten sich und zogen sich zusammen; Frau Anna Maria Casparius war reizend, wenn sie zornig wurde.

      »Ja«, gestand der Gatte zu, »ein fliegender Holländer, der mit seiner Senta ins Meer hüpft, um in Gloriole himmelwärts zu steigen, bin ich halt net – sondern nur ein treuherziger Assessor. Aber für die drei Mädle ischt’s vielleicht besser so, und mir habe ja unsere Oper, um die übrigen Gefühle abzureagieren.«

      »Da komm’ ich auch nie hin.«

      »Ja, willscht du denn? Ich nehm’ dich beim Wort, Anna Maria, du mußt eine Hüterin bestellen für diese Wiege und mit mir in die Oper gehen. Der Herr Wichmann kommt auch mit, gelt, daß du einen Kavalier hascht neben deinem altbekannten Schimpansen.«

      Wichmann erbot sich sofort, die Karten zu besorgen.

      Wie Knospen im lauwarmen Regen sprangen, so schossen bei dem Gedanken die Hoffnungen und Pläne seiner freigegebenen Phantasie. Er wurde lebhafter und liebenswürdiger als je, beugte sich nochmals über die Drillinge, die sich in den Schlaf schrien, und ließ sie seine Finger fassen. Er erzählte Frau Anna Maria von der Herrlichkeit einer Opernfestvorstellung und beriet an Stelle des Gatten mit ihr, welches Kleid sie für den Abend wählen solle. Er war bereit, sich abends um sechs Uhr anzustellen, um morgens um acht Uhr die Karten zu erhalten. Es war kein Zweifel, daß er eine Premiere oder ein berühmtes Gastspiel ausfindig machen würde, bei dem sich Bühne und Publikum in ihrem Glanze präsentierten. Im Anschluß an die Vorstellung wollte er das Ehepaar Casparius zu einem Souper bei Hattig einladen, dem nur mit ehrfürchtigem Schauer genannten teuersten Restaurant.

      Frau Anna Maria war rot und blaß geworden, denn ihr unschuldiges und gerades Gemüt konnte nichts anderes denken, als daß es dem Kollegen des Gatten ein solches Glück war, ihr eine Freude zu bereiten. Wichmann aber war selig in ungehemmten Träumen von jenem Opernabend, an dem er Marion wiedersehen, an dem er auf irgendeine Art ein Wort, ein Zeichen seiner Empfindungen zu ihr gelangen lassen wollte. Seine Seele schwebte über der Erde und wollte die anderen mittanzen und mitfliegen lassen.

      Der abgeschnittene Teil seines Gehirns, in der der graue Verstand wohnte, hatte versucht, ihm sein Verhalten lächerlich zu machen. Konnte er nicht jeden zweiten Donnerstag, wenn es ihm beliebte, das Haus Kreuderstraße 3 aufsuchen und neben Orchideensträußen und flackerndem Kaminfeuer die Geliebte sehen und sprechen? Warum war er nicht mehr hingegangen? Warum zermarterte er sein Herz im hundertsten Nachkosten einer Enttäuschung, im tausendsten Wiederholen einer wütenden Eifersucht, im immer neuen Zerschmelzen vor einer nicht löschbaren Flamme? Warum nannte er Marion eine Dirne, eine Hochmütige und Hysterische, warum peitschte sein Herz ihn selbst als einen Philister und im Staube schon vertrockneten Bürokraten, warum bat er den Teufel bei jedem Einschlafen noch einmal um den Traum jenes Tango … jenes einzigen Tango, der alles gewesen war – und auf den nichts gefolgt war als Mißverständnis, Entfernung, Bangen und Marter, Loswollen und nicht Loskönnen – gar nicht mehr Loswollen? Was wollte er mit seinem Streben um das nie zu Erlangende, und was glaubte er in einer Opernvorstellung zu erleben, wenn Marion in ihrem Hause stumm und unnahbar geblieben war? Er war ein Narr, ein Narr.

      Aber die Nerven gehorchten der Phantasie und nicht dem Verstande. Auf dem Heimweg von des Freundes Casparius kleiner Wohnung blieb Oskar Wichmann an den Litfaßsäulen stehen und beruhigte sein Herz mit der zum dritten Mal durchgelesenen Notiz, daß der berühmte ausländische Tenor an einem einzigen Abend auftreten und den Radames in »Aida« singen werde. »Erhöhte Preise … Beginn des Vorverkaufs am …«, also in drei Tagen. Es war noch Zeit. Der Tenor sang an einem einzigen Abend! Ihr himmlischen Mächte, das war ein gesellschaftliches Ereignis, bei dem die Familie Grevenhagen nicht fehlen konnte. An einem einzigen Abend! Hatte er nicht schon in der Zeitung der Geheimrätin von dem kommenden Ereignis gelesen? Er mußte morgen beim Frühstück Martha bitten, ihm das Blatt noch einmal herauszusuchen. In drei Tagen begann der Vorverkauf. Wenn Wichmann morgen etwas früher aufstand, konnte er sich schon mit dem Pförtner des Opernhauses besprechen. Vielleicht konnte er morgen schon in die Oper gehen, gleich, was gegeben wurde, und bei dem Logenschließer die Stammplätze der Familie Grevenhagen erfahren. Natürlich waren sie im ersten Rang.

      Hier stand noch eine Litfaßsäule. »Festvorstellung anläßlich des einmaligen Auftretens … erhöhte Preise … Stamm- und Freikarten ungültig …«

      Wichmann konnte den Text schon auswendig. Stammkarten ungültig … aber wie er Justus Grevenhagen beurteilte, sorgte dieser Hausherr und Gatte dafür, daß die gewohnten Plätze auch an diesem Abend ihm und seiner Familie zur Verfügung standen.

      Wichmann kam pfeifend nach Hause, nahm am Abend noch ein Bad, stellte den Wecker eine Stunde früher und dachte an den Blumenladen in der Residenzstraße, an dieses Fenster mit den erlesensten Erzeugnissen der Gewächshäuser. Zartfarbene Teerosen sollten es sein, sich entfaltende Knospen an langen weichen Stielen – denn der Tango hatte sich »Gelbe Rosen« genannt. Er würde jetzt jeden Tag an dem Fenster der Blumen vorübergehen und träumen, wie er als Junge geträumt hatte.

      Mit dem Assessor ging abermals eine Veränderung vor. Er wurde wieder arbeitslustig, die Gedanken drängten sich ihm zu, und Entscheidungen wurden ihm leicht; seine Ansichten brachte er gegenüber den Kollegen entschiedener vor als bisher. Bei der Tafelrunde in der »Stillen Klause« machte er Fräulein Hüsch nicht abreißende Komplimente. Er nannte ihren Hut sehr chic, bekrittelte den Friseur, der ihre Haare nie so vorteilhaft lege, wie sie gewachsen seien, und versicherte ihr, daß sie sich als Dame niemals in den öden Dienstbetrieb einzufügen brauche; er werde ihr den Entwurf für das neue Bücherverzeichnis machen, den Grevenhagen verlangt hatte. Den Inspektor Baier hörte Wichmann mit Geduld an und entzückte ihn dadurch, daß er das Ergebnis der herbstlichen Fußballkämpfe noch im Kopfe hatte und über die Frühjahrsaussichten von Hertha BSC zu diskutieren bereit war. Borowski schien es für zweckmäßig zu halten, sich mit Grevenhagens »rechter Hand« zu vertragen. Der einzige Kollege, mit dem der Assessor in einem gespannten Verhältnis stand, war Korts, aber der Gegensatz wurde, durch gegenseitige Achtung und Klugheit gebändigt, nie in ein Wort gefaßt.

      Von der Liste der Ernennungen war häufig die Rede, und sowohl Wichmann selbst als auch die ganze Kollegenschaft hatte sich an den Gedanken gewöhnt, daß Wichmann als das »Wundertier des Abendlandes« zu den Glücklichen zähle. Ministerialdirektor Boschhofer hatte an der Denkschrift zu den Etatsverhandlungen besonderes Wohlgefallen gefunden.

      Wichmann stand regelmäßig früh auf und freute sich immer wieder auf den Weg, der ihn an der prächtigen Blumenausstellung und der Vorhalle des Opernhauses vorbeiführte. Der Pförtner erwiderte seinen Gruß und versicherte von Zeit zu Zeit, daß die Zigarren ausgezeichnet gewesen seien. Wichmann aber wußte in der Schublade seines löwenbeinigen Schreibtisches die drei Karten, auf denen stand: Erster Rang, links, erste Reihe. Die Grevenhagenschen Stammplätze befanden sich rechts, Loge sieben, wie ihm der freundliche grauhaarige, gebückte Logenschließer berichtet hatte. Die junge Frau Grevenhagen pflegte auf dem Stuhl Nr. 1 zu sitzen. Der Operndiener hatte diese zweckdienliche Mitteilung ohne Wimpernzucken und mit einer so sachlichen Miene gemacht, daß sich Wichmann seine Verlegenheit bei der Frage ruhig hätte sparen können.

      Ein Dutzend Teerosen waren vorbestellt. Der begleitende Umschlag ohne Namen und Absender, nur mit der Bezeichnung von Platz und Datum, war bei dem Büro des Geschäftes abgegeben.

      An dem Tag, an dem dies geschehen war, hatte Oskar Wichmann in einer dienstlichen Besprechung bei seinem Vorgesetzten die Augen gesenkt. Die eine Sekunde, in der er dem hellen Blick des anderen nicht mehr standhielt, verriet ihm, daß seine Stellung zu dem Ministerialrat Justus Grevenhagen nicht mehr dieselbe war. Scham und Auflehnung waren im Mantel der Verborgenheit über ihn gekommen. Als er das Zimmer verließ, schaute ihn das Lichtgrau der Tür, die er hinter sich schloß, fremd an. Der düstere Korridor schien böse zu glotzen, und die kahle Wand, die kahlen Möbel seines Dienstzimmers waren ihm feindlich. Aber er versenkte alle diese Gesichter der Pflicht in den unteren Wassern des Bewußtseins und ließ die Wellen der Phantasie darüber hinwegspülen.

      Als der 24. Februar 1929 zum Abend dunkelte, war es noch schneidend kalt. Die Feuerwehren waren herbeigerasselt, um eingefrorene Enten und Schwäne auf