Zwei Freunde. Liselotte Welskopf-Henrich. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Liselotte Welskopf-Henrich
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Историческая литература
Год издания: 0
isbn: 9783957840127
Скачать книгу
Wichmann rechnete einen Augenblick. Die Schwester war jetzt zweiundzwanzig Jahre alt.

      »Vera … unser Vater war Chemiker …«

      Das Mädchen legte den Kopf ein wenig zur Seite und blieb stehen, um den Blick in die Weite zu genießen. Dann lächelte sie den Bruder an. »Ja, gewiß«, sagte sie, zwischen Scherz und Ernst. Oskar Wichmann spürte aus ihrem Ton, daß sie ihn nicht hänseln wollte. Ihre Seele war ein sehr feines Instrument und nahm den zartesten Bogenstrich wahr.

      »Erinnerst du dich vielleicht an einige seiner wissenschaftlichen Geheimnisse?« fuhr er fort. »Du beschäftigst dich doch auch mit solchen ernsthaften Dingen?«

      »Mehr mit Sprachweisheiten, und zwar im sechsten Semester, Bruderherz.«

      Die Geschwister hatten eine Bank erreicht, und obgleich die Luft sehr kalt war, schien ihnen die Wirkung der Morgensonne doch zu genügen, um sich für ein paar Minuten miteinander niederzulassen. Rings war es einsam, alle Höhen und der weite Himmel schienen den beiden allein zu gehören.

      »Sprachweisheiten«, wiederholte Oskar Wichmann.

      »Ja, aber den Sinn der menschlichen Worte zu erraten, ist oft schwer, am schwersten gegenüber dem großen Bruder.«

      »O du junge Philosophin! Kennst du nicht doch ein geheimnisvolles Mittel, irgendein Zauberwort, mit dem man Liebe töten kann, ehe man selbst daran stirbt?«

      Vera wurde dunkelrot. »Ich weiß«, sagte sie leise, »du hast es schwer.«

      »Was weißt du?« Wichmann war aufgestanden, um den Weg fortzusetzen. Er fühlte sich getroffen, und im Weiterschreiten glaubte er das Gespräch, das er begonnen hatte, eher fortführen zu können.

      »Ach Oskar!« Die Schwester griff nach seiner Hand, der Bruder faßte sie und so gingen sie miteinander weiter.

      »Hast du schon einmal einen Mann geliebt, Vera? Es ist noch nicht lange her, daß wir uns getrennt haben, und doch bist du anders geworden.«

      Vera schüttelte den Kopf, ohne aufzuschauen. Sie hob ein Steinchen vom Weg und warf es in die Luft.

      »Ich habe es ja nicht nötig«, sagte sie übermütig. »Ich werde arbeiten.«

      »Ich meine … könntest du dir vorstellen …?«

      »Wie das ist, wenn man sich verliebt? Oskar, ihr seid – also die meisten von euch sind Hampel oder Spießer oder Großtuer oder Hohlköpfe. Dafür bin ich noch nicht reif und werde es auch nie. Und sonst … na ja …«

      »Willst du mich einmal in der großen Stadt besuchen?«

      »Ja, gern. Aber ich komme doch nicht. Denn dann reist Olga mit« – das war die ältere Schwester –, »und ich kann dir die Bekannten aufzählen, bei denen ich Besuch machen und mit denen ich ins Theater gehen und mit deren junger Garde ich tanzen muß. Hast du dich schon einmal um den Vetter Cormann gekümmert? Nein? Na, siehst du. Ich will auch nichts von ihm wissen. Meine Verehrer interessieren mich alle nicht. Es könnte mich höchstens reizen …«

      »Was könnte dich reizen?«

      Wichmann pflückte einen Zweig und spielte damit. Der Weg führte am Rande der Anhöhen, fast eben, in vielen Windungen weiter, und man brauchte nicht auf ihn zu achten und sich nicht anzustrengen. Die Gedanken arbeiteten frei.

      »Was könnte dich also reizen?«

      »Gar nichts.«

      Oh, die Schwester verbarg etwas. Wichmann fühlte sich um so mehr zu ihr hingezogen.

      »Ich möchte am liebsten wieder fort aus der Kreuderstraße«, sagte er. Vera hatte seine Hand losgelassen.

      »Ist ›sie‹ so schön?« fragte sie. »Du mußt dich in acht nehmen, mit deinen Briefen, Oskar. Olga wird schon stutzig.« Wichmann fühlte, wie ihm das Blut bis zur Stirn stieg.

      »Ich habe nur sachlich erzählt. Aber liest sie meine Briefe an dich?«

      »Solange ich bei ihr wohne, kann ich das kaum verhindern. Es ist die alte Familiengewohnheit, du weißt es ja.«

      Wichmann war sehr verstimmt.

      Er verlangsamte den Schritt etwas, denn er hatte noch keine Lust, wieder abzusteigen, und auch nicht, sehr viel weiter zu gehen.

      »Ist ›sie‹ glücklich, Oskar?«

      »Glücklich?« Wichmann dachte nach. Er hatte sich diese Frage noch nie gestellt. Sie war die Frau des andern.

      »Sie lebt in einer Welt, in der sie fremd erscheint«, sagte er leise. »Aber darin liegt auch ein besonderer Reiz. Weißt du etwas von Bremer Patriziern und Potsdamer Offiziersadel?«

      »Von diesen unglücklichen Menschen, die nie sich selbst, sondern immer nur ihre vorgezeichnete Rolle spielen dürfen? Ein grausames Schicksal, kompensiert nur durch die Wollust des Hochmuts, und gerade die zehrt diese Menschen noch mehr aus und zieht ihnen bei lebendigem Leibe die Drähte durch die Glieder, an denen sie von anderen bewegt werden.«

      »Unglücklich nennst du solche Menschen? Sie haben nicht nur ein grausames Schicksal, sie sind selbst grausam. Durch ›ihre‹ Glieder lassen sich keine Drähte ziehen, ohne daß sie daran verblutet.«

      Vera schaute ins Unendliche des Himmels, ohne den Augen des Bruders mit ihrem Blick begegnen zu wollen. Es blieb wieder still zwischen den beiden Vertrauten der Kindheit.

      Vera hatte einen Baumstumpf gefunden und setzte sich noch einmal. Der Bruder kauerte sich auf eine starke Wurzel. Plötzlich überwältigte es ihn. Er legte den Kopf in den Schoß des Mädchens, und seine Augen wurden feucht.

      Sie schwieg und wartete.

      »Komm«, sagte er, als er wieder aufstand. Er faßte die Schwester unter den Arm, und sie gingen schnell miteinander weiter.

      Auf einmal lächelte Vera, hell, freundlich, lösend. Sie hatte sich wieder gewandelt.

      »Wir sind Kindsköpfe, Oskar! Schlag dir alles aus dem Kopf. Vielleicht komme ich doch einmal zu dir und zu dem jour fix in der Kreuderstraße 3?«

      Es war Wichmann, als ob eine Fessel von ihm abfalle. Er begann zu lachen und zu plaudern.

      »Ganz falsch, teures Schwesterherz. Ich kündige das Zimmer in der Kreuderstraße und ziehe um. Aus den Augen, aus dem Sinn! Sind wir Männer nicht so?«

      »Vielleicht sollt ihr so sein, ihr Verbrecher.«

      Vera huschte zu dem nächsten Weg, der wieder in das Tal, führte. Die Geschwister stiegen ab.

      Als am nächsten Morgen die lärmende Bahnhofshalle der großen Stadt den Zurückkehrenden in sich aufnahm und ihn wieder hinausspie in die kalten Straßen, in denen der morgendliche Winterwind herumirrte, fand Oskar Wichmann den Weg in sein Arbeitszimmer, ohne erst in das geheimrätliche Haus gegangen zu sein. Er wusch sich noch einmal die Hände, an denen immer noch Ruß zu kleben schien, steckte eine Zigarette an und sah die Neueingänge auf seinem Aktenbock durch. Es waren ihrer wenig. Man merkte, daß Grevenhagen noch auf Urlaub war. Auch die Tischrunde in der »Stillen Klause« hatte sich sehr verkleinert. An manchen Tagen erschien niemand als Wichmann und Casparius.

      Die Kündigung bei der Geheimratswitwe war noch nicht ausgesprochen. Vor dem 1. Februar konnte der Mieter nicht ausziehen, wenn er nicht doppelt bezahlen wollte. Der letzte gesetzliche Kündigungstag war der 15. Januar. Der Anstand erforderte es, daß er spätestens am 1. Januar seine Absicht auszuziehen, bekanntgab. Bis dahin blieben noch einige Tage. Die Geheimrätin hatte Mandelplätzchen und Zimtbrötchen gebacken, von denen täglich sechs Stück in einem Körbchen auf des Assessors Schreibtisch standen, und täglich wurde von Weihnachten bis Neujahr das Sonntagsfrühstück serviert. Die Kreuderstraße 3 lag verlassen und verschlossen. Wichmann stand ein paarmal sehr früh auf und ritt allein durch den Park. Ein hübscher temperamentvoller Fuchs aus Privatbesitz sollte gerührt werden, und der Assessor kam auf diese Art zu einem annehmbaren Pferde. Er fühlte sich sicher auf dem Pferderücken.

      Der Fuchs begrüßte ihn jedesmal zärtlich,