»Ja, gehen wir. Aber Musa zieht bestimmt die Sardellenbrötchen vor. Sie brauchen keine Angst zu haben, Herr Casparius, daß Sie für den Schinken zu spät kommen.«
Die Gesellschaft entschwand in den Empiresalon. Wichmann zog sich um.
Als er fertig und dabei war, Fräulein Hüsch in den Mantel zu helfen, hörte er Casparius brummen: »Sardelle und Sumpfblüte …«
Wichmann warf einen raschen Blick auf Casparius, aber als der andere ihm offen begegnen wollte, machte er eine halbe Wendung, um seinen Hut von dem Ständer zu nehmen und mit scheinbarer Aufmerksamkeit daran herumzudrücken, bis er gut saß.
Nach dem kurzen Weg durch die Kälte legten die Kollegen in der warmen und hell erleuchteten Diele des Hauses Kreuderstraße 3 ab; leise Stimmen und Schritte waren aus den Empfangsräumen der vorderen Front zu hören, und ein Diener ging mit einer großen abgegessenen Platte vorbei.
Die Kollegenschaft fühlte sich von dem Schimmer der Erwartung berührt und auf eine höhere Stufe angenehmen Lebensgefühls gehoben.
Fräulein Hüschs gute Figur, der grüne Georgette, ihr kleiner passender Seidenturban, machten als Gesamteindruck keinem ihrer Kavaliere den Vorwurf, daß er mit einer unansehnlichen Dame gekommen sei. Korts folgte ihr in einer Haltung, als ob er in den Kampf ziehe.
Wichmann beobachtete noch, wie die beiden in den ersten Salon eintraten, als er selbst angesprochen wurde und ihnen nicht länger nachsehen konnte.
Schildhauf hatte ihn aufgespürt. »Kommen Sie mit mir, Wichmann, ich bringe Sie durch das Getümmel zur Hausfrau …«
Die beiden Herren gingen ohne Eile durch das Zimmer mit den dicken Teppichen, in dem das Büfett aufgestellt war. Hier verloren sie zwischen kommenden und gehenden Gästen den Kollegen Casparius, der Toasts mit Schinken entdeckt zu haben schien. Im Herrensalon flackerte wieder das offene Kaminfeuer, das Wichmann schon kannte. Rotes Leuchten und knackendes Knistern waren in der Dämmerung noch stimmungsvoller als am Morgen. In den Sesseln saßen ansehnliche Herren mit markanten Köpfen; sie betrachteten das Abglühen edler Zigarren und stießen Rauch aus, ehe sie ihre Bemerkungen mit entschiedener Stimme vorbrachten. Schildhauf und Wichmann grüßten Herrn von Linck, der sichtlich erfreut dankte.
Der Regierungsrat leitete den Assessor weiter zu dem Musiksalon, dessen blankes Parkett nicht viel mehr als den schwarzglänzenden Flügel und einige zierliche Stühle trug. In der Ecke stand eine große schlanke Vase mit Orchideenzweigen, deren jeder das Monatsgehalt eines Regierungsassessors gekostet haben mochte. In unscheinbaren Farben und seltsamen Formen lebten diese Blüten, deren Seltenheit das menschliche Herz reizte.
Damen und einige jüngere Herren standen in kleinen Gruppen umher. Seide und kostbares Tuch flossen um gepflegte Gestalten. Die Kerzenbeleuchtung schmeichelte den Farben und Formen durch ihre milde Helle und belebte sie durch den Wechsel von Schatten und Schein. Das gedämpfte Licht erlaubte es, durch die dunkel scheinenden Fenster noch hinauszusehen zu Bäumen und mondflimmerndem Schnee.
Als Wichmann bei der Frau des Hauses die Grußform des Handkusses leistete, wagten seine Lippen nicht, ihre Hand dabei zu berühren. Er sah das abwesend-höfliche Lächeln ihrer Lippen, das sie ihm fremd machte, und hörte ihre dunkle Stimme, mit der sie zu anderen wenige gleichgültige Worte sprach.
Der Flügel wurde geöffnet. Eine Künstlerin entlockte ihm die tänzerische Anmut einer Mozartsonate, aber das waren nicht die Klänge, in die Marions Bild sich lösen konnte. Es war matter und geheimnisvoller. Sie trug auch heute ein dunkles, ganz geschlossenes Kleid. Ihr Haar hatte einen nicht beschreibbaren Schimmer, ihre Hautfarbe war wie Elfenbein. Die Damen und die Herren sprachen zu ihr, und sie folgte ihren Worten mit dem gleichbleibenden Lächeln, das ihre Traurigkeit verdeckte. Selten antwortete sie; ihr »Ja« und ihr »Nein« hatten einen nachdenklichen Klang, so, als ob immer noch eine Frage nach dem Sinn alles Sprechens zurückbleibe.
Wichmann stand blaß neben Schildhauf an der seidenbespannten Wand und begehrte mit einem Blick, in den sich sein Blut zusammendrängte, die einzige Bewegung, die sie ihm noch einmal enthüllte. Aber die Herrin des Hauses war von unsichtbaren Schilden umgeben.
»Zum Wahnsinnigwerden«, sagte Schildhauf. »Sie ist die einzige Frau, die einen modernen Mann noch verrückt machen kann. Sehen Sie sich an, was darum herumsteht – nichts als Fabrikware, hundertfach auswechselbar. Aber sie ist einmalig. Ich kann Grevenhagen verstehen!«
Durch die Tür zum Herrensalon, die halb geöffnet war, wechselten Gäste herüber in das Musikzimmer. Herr von Linck zeigte, daß es ihm eine Ehre war, mit Marion Grevenhagen eine Unterhaltung zu führen. Sie sah den alten Herrn voll und lächelnd an, aber auch ihm gelang es nicht, die Luft zu durchdringen, die zwischen ihr und allen anderen lag. Wichmann dachte daran, daß sie ihn um einen Tanz gebeten hatte, und er war nicht gekommen.
»Haben Sie Musa gesehen?« fragte er Schildhauf leise und heiser.
»Den harmlosen Irren? Er war vorhin da. Vielleicht ist er schon wieder gegangen. Kennen Sie ihn?«
»Er arbeitet in der Abteilung II.«
Die beiden Herren wurden aus ihrer Zurückgezogenheit aufgestört. Bekannte des Regierungsrates aus dem diplomatischen Dienst zogen ihn und Wichmann in den Kreis.
Man sprach von Theater und Konzert und einigen neuen Büchern. Grevenhagen selbst zeigte sich und machte eine spöttische Bemerkung über Emil Ludwig.
»Oh, lieben Sie historische Romane nicht, Herr Ministerialrat?«
»Ich will Ihnen das Vergnügen an dieser Art Geistigkeit nicht verderben, gnädige Frau, ich möchte Sie nur darum bitten, mich als Mann davon zu beurlauben.«
»Aber wie …?« Die Dame mit dem Pagenkopf wurde interessiert. »Glauben Sie nicht, daß gerade der historische Gegenstand des männlichen Interesses besonders würdig ist?«
»Der Gegenstand ohne Zweifel. Aber die zumeist recht intime Behandlungsart entspricht doch mehr dem Boudoir als dem Klubsessel.«
»Oh? Aber auch Herren können sich doch geistig nicht wie unter Denkmälern bewegen. Auch die bedeutenden Menschen waren aus Fleisch und Blut!«
»… und hatten nicht auch sie ein Recht auf Diskretion?«
»Wer das allgemeine Schicksal bestimmen will, lebt auch öffentlich und darf nicht klagen über das öffentliche Interesse.«
»Der Gedanke ist sehr erwägenswert, vielleicht ist er sogar richtig. Die großen Menschen dürfen nicht klagen. Aber vielleicht vermögen einige der Kleineren freiwillig haltzumachen vor dem Persönlichen.«
»Ich glaube nicht, daß man irgendwo auf Erkenntnis verzichten sollte.«
»Sie sind der Literatur und dem intellektuellen Interesse ergeben. Ich darf mich darin nicht mit Ihnen messen, gnädige Frau. Ich sattle viel zu häufig das Roß und sprenge in die Gedankenlosigkeit hinein.«
»Reiter und Pferd sind nichts Ungeistiges«, sagte Oskar Wichmann in die entstehende kleine Pause hinein. »Ich glaube, daß sich die Begegnung des feinstempfindenden und stolzesten der Tiere mit dem Menschen unter allen Sportarten als etwas Besonderes hervorhebt. Die Einheit, die sich aus Wissen, Willen, Beherrschung und körperlicher Kraft ergibt, kann zu einem Bildwerk geläuterter Kultur werden. Bei dem Anblick eines vorzüglichen Reiters auf vorzüglichem Pferd habe ich immer noch am ehesten die Empfindung, mit der die Griechen einen schönen Körper und die Geistigkeit einer schönen Lebensführung zusammen geschaut haben mögen.«
»Das haben Sie ausgezeichnet gesagt!« rief von Linck.
»Grevenhagen, unser junger Herr Wichmann ist wert, Ihre Grauschimmel besichtigen zu dürfen.«