Was schrieb Frau Grevenhagen an Alfons Musa?
Vielleicht verkehrte der Verrückte aus der Abteilung II in diesem Hause, in das Oskar Wichmann eine Einladung noch immer nicht erhalten hatte. Vielleicht …
Alphonse …?
Die Eifersucht hatte scharfe Zähne, sie wetzte sie am scharfen Verstand. Eine Frau, die heimliche Zettel schrieb, schrieb auch heimliche Briefe. Eine Frau mit dünnen, haltlosen Zügen, geschiedene Gräfin Markwitz … Hast du noch einen Diener und Geliebten mehr nötig, Marion?
Die Erinnerung war übermächtig. Oskar Wichmann spürte in seinen Nerven den Duft der fremden Blumen. Ein perlfarbenes Gesicht ohne Lächeln beugte sich zurück …
Marion, Marion …
Müde hingen die Blüten und Knospen der Teerosen an sich beugenden Stielen und verströmten ihren Duft.
Ein einziges Mal … noch ein einziges Mal … aber er … Oskar Wichmann wußte nicht mehr, wie er den Weg in das Ministerium gemacht hatte. Er vergrub sich in seinem Zimmer zwischen den Büromöbeln wie ein wundes Tier, das Dunkelheit sucht. Zum erstenmal nahm er den Hörer nicht ab, wenn das Telefon mit seiner schrillen Stimme rief. Er las Akten, ohne ihren Sinn zu begreifen. Er hörte Schritte an seiner Tür vorbeilaufen und fürchtete jedesmal, daß sie bei ihm anhalten könnten. Es war ihm, als ob er das Ticken seiner Uhr vom Handgelenk bis in die Stirn fühlte. Sie lief weiter und wollte die Stunde zeigen, in der die anderen in der »Stillen Klause« sich Witze erzählen und ihrem Kater einen Mokka geben würden. Die anderen. Oskar Wichmann haßte sie. Er haßte die freche Hüsch, den prallen Korts. Was würden sie anderes tun, als mit den Fingern auf ihn deuten und über die Brühe mit Einlage hinwegschielen nach dem Mann, der mit Marion Grevenhagen getanzt hatte!
Das Telefon rief in kurzer Zeit zum dritten Mal.
»Wichmann.«
Fräulein du Prels Stimme sagte, deutlich und verhalten wie immer, »Ministerialrat Grevenhagen läßt Sie bitten, Dinge, die keinen Aufschub dulden, möglichst noch heute mit ihm zu besprechen. Er will morgen bis über Neujahr auf Urlaub gehen.«
»Danke. Es liegt nichts Eiliges vor.«
Wichmann lehnte sich in seinen Stuhl zurück. Es war, als ob jemand plötzlich eine schwere Last, die er auf seinen Schultern umherschleppte, fortgenommen habe. Auf Urlaub fahren! Fort, weit weg! Den Mann nicht mehr sehen müssen, dem »sie« gehörte, seine Stimme nicht mehr hören müssen, diese beiden Menschen vergessen können. Wieder um sich schauen, als ob nichts gewesen sei!
Als die Uhr sich bis zur ersten Stunde nach Mittag durchgetickt hatte und Lotte Hüsch in ihrer zerfahrenen Art anklopfte und die Tür öffnete, stand Oskar Wichmann mit einem gleichgültigen Lächeln auf, um nach Hut und Mantel zu greifen.
»Wo stecken Sie denn die ganze Zeit, Herr Wichmann?«
»Hier. Ich habe mein Zimmer nicht verlassen.«
»Hören Sie, entwickeln Sie sich nicht zum Streber! Der Chef geht doch morgen auf Urlaub. Wir alle waren in der Bücherei beisammen. Sie ahnen gar nicht, was Sie für ein berühmter Mann geworden sind!«
»Leider ahne ich es.«
Die Tischrunde war heute zahlreich. Die Katzen schlichen um den wohlschmeckenden Brei kollegialer Anzüglichkeiten, ohne sich bei der Undurchsichtigkeit von Wichmanns Mienen recht daranzuwagen. Als die rote Grütze mit der gelben Soße verspeist und der Mokka mit Zucker und Sahne vertilgt war, faßte Wichmann Nathan ins Auge. Der Blick des anderen wich zur Seite.
»Sie wählen manchmal ungeeignete Aufbewahrungsorte für Ihre gesammelten Werke, mein Herr. Wenn Sie keine Ohrfeigen bezogen haben, so liegen die Gründe dafür nicht in Ihrem Verhalten. Ich möchte es nur vermeiden, einmal mehr als nötig meine Hände waschen zu müssen.«
Wichmann hatte leise gesprochen und ohne die Farbe zu wechseln. Die Runde war mäuschenstill. Der Angeredete versuchte zu lachen, stand dann auf und entfernte sich ohne Gruß.
Casparius fing an, vom Weihnachtsurlaub zu sprechen, und Wichmann empfand, daß die Kollegen seine Schärfe nicht billigten. Ohne sich am Gespräch zu beteiligen, dachte er für sich selbst über die Fest- und Ferientage nach.
Er hatte noch keinen Urlaub zu beanspruchen und wollte sich auch nicht um freie Tage bemühen. Es war sein Plan, am 24. Dezember mit dem Mittagszug nach Hause zu reisen und am 26. Dezember des Nachts zurückzufahren.
Drei Tage blieben noch bis dahin.
Er hoffte, sie ungestört verbringen zu können. Fräulein Hüsch verreiste schon, Nathan würde sich nicht mehr blicken lassen, und Borowski blieb sicher ebenfalls unsichtbar, wenn er ein schlechtes Gewissen hatte. Die anderen hielten jetzt den Mund.
Da Grevenhagen nicht anwesend war und das Fest so nahe bevorstand, verbreitete sich eine lässige Stimmung in der Abteilung. Wichmann war der einzige, der wirklich arbeitete. Er schloß ein neues Gutachtenüber die Bezirksreform ab. Es war bescheidener als das erste. Der allgemeine Schlüssel, den er hatte finden wollen, ließ sich noch nicht berechnen, da keine ausreichenden einheitlich gewonnenen Wirtschafts- und Sozialdaten für das ganze Staatsgebiet zu erhalten waren. Es ließ sich vorläufig nur von Fall zu Fall und mehr nach Erahrungf als nach Wissenschaft vorgehen. Wichmann hatte eine Karte gezeichnet, die den beteiligten Ministerien vorgelegt werden konnte.
Die Festtage in der Heimat genoß Wichmann wie ein vorläufig den Gefahren Entronnener. Es schien alles zu sein wie früher und war doch ganz anders. Die bunten Kerzen am Baum brannten und beleuchteten die goldgeflügelten Wachsengel, die der kleine Junge Oskar schon bestaunt hatte, als die Eltern noch lebten. Wichmann hatte bei seiner verheirateten Schwester auf dem weißgedeckten Gabentisch eine Fülle von Geschenken und Aufmerksamkeiten vorgefunden. Er machte mit Schwester und Schwager am ersten Feiertag den Nachmittagsspaziergang unter blauem Winterhimmel und freute sich mit den Kindern, die in neuen Mänteln und bunten Mützen ihre Puppenwagen ausfuhren und ihre Pistolen knallen ließen. Er ging des Abends in das Stadttheater und begrüßte im Foyer das Tanzstundenfräulein in dem rosaseidenen Kleidchen. Er erzählte von der großen Stadt, von der Residenzstraße und dem mächtigen Ministerium. Es war alles richtig, was er sagte, und war doch alles falsch. Wenn er den Uhrzeiger vorrücken sah, spürte er den Druck in seinem Innern. Das Zeichen des Abschieds stand mit großen Lettern schon über der ersten Begrüßung. Er mußte zurück … zurück in die Kreuderstraße.
Am Morgen des zweiten Feiertages, der zugleich der Abschiedstag war, wanderte Wichmann mit seiner jüngeren Schwester noch einmal zu den umliegenden Höhen der kleinen Universitätsstadt. Im Tale lagen weiße Nebel. Es war kein Schnee gefallen; der Fuß ging über hartgefrorene Erde. Oskar und Vera liefen schweigend mit geröteten Wangen den sich windenden Pfad am Hang hinauf. Sie genossen miteinander das wohltuende Gefühl, alles Niedrige unter sich zurückzulassen, die Höhe aber und die Sicht in die Ferne zu gewinnen. Der Bruder ließ die Schwester auf dem steilen und schmalen Weg vorangehen, um sie nicht durch zu schnellen Schritt etwa zu überanstrengen. Aber Vera lief leicht, mit flinken und sicheren Füßen wie ein junges Reh, und der Bruder schritt aus, um ihr zu folgen. Vera hatte sich verändert. Oder sah der betrachtende Bruder die Schwester nur mit neuen Augen? Am Weihnachtsabend war ihm das bisher Unbekannte an der Schwester aufgefallen. Ihre Gestalt war schlanker und wiederum voller geworden, in ihrem Lachen klang ein neuer Ton, und sie wandelte sich immerzu. Unter dem Christbaum stand sie in einem weißen Kleid wie eine Prinzessin aus Tausendundeiner Nacht, mit weichem Goldhaar, das in natürlichen Wellen fiel. Heute schien sie sportlich und kühn; die Locken waren von einer kleinen Kappe gefaßt, das Schneiderkostüm betonte das Ebenmaß ihrer noch wenig ausgesprochenen Formen, ihr Schritt federte. Wie die Verkörperung des herben Morgens wirkte sie! Wichmann kam der Schwester mit ein paar schnellen Sprüngen zur Seite.
»Vera?« Er sah ihr in die Augen. Es war nur die einzige Hoffnung in ihm, daß sie schon begreifen möchte, was ein liebender Mensch empfand.
Vera lachte. Errötete sie? Spürte sie, was