Gegen die Politische Vernunft richtet sich das Dostojewskij-Theorem in drei Hinsichten: Zum ersten wischt es die Zeithorizonte menschlichen Lebens aus. Wenn wir heute noch ins Paradies eintreten können, dann bedarf es keiner Zukunft mehr. Und wenn die All-Liebe eines einzigen imstande ist, die Sünden der Welt abzuwaschen, dann ist die großartige Idee von Hermann Lotze sofort einlösbar: Nämlich daß die Lebenden die Pflicht hätten, die Vergangenheit zu erlösen. Zum zweiten kollabiert die Sphäre des Politischen augenblicklich und vollständig. Denn in der bergpredigthaften Hingabe für die Mitmenschen ertrinkt jedwede Selbstbehauptung, sowohl die individuelle als auch die kollektive. In diesem Zustand wird es sinnlos, Fristen zu bedenken. Treffend nannte Blaise Pascal die Voraussetzung für ein Leben entlang der Seligpreisungen: ›Tun wir so, als hätten wir nur acht Tage zu leben‹. Zum dritten entwertet sich die Urteilskraft brüsk und restlos, sobald die Erlösung zum Leitmotiv des Denkens wird.
Das Denken von Emmanuel Levinas erhielt Aufwind während der Diskurswende der letzten beiden Jahrzehnte, als jäh klar wurde, daß die Annahme einer fortschreitenden Säkularisierung bestürzend naiv war. Seine Philosophie erfreut sich einer unentwegt steigenden Aufmerksamkeit nicht zuletzt wegen ihres dostojewskijschen Kerns. Levinas ist derjenige unter den modernen Philosophen, der die Vision des Staretzen Sossima in die Sprache der Philosophie übersetzt hat – freilich modifiziert. Zunächst schneidet der jüdische Philosoph die ostkirchliche Idee der Allgnade aus der Vision heraus. Damit verändert sich die theologische Qualität der moralischen Maxime, denn ihr fehlt die tröstliche Umfassung. Ferner formt er aus der Allschuld eine »grenzenlose Verantwortung«. Die moralische Haltung, welche aus der Einsicht entspringt, an allem schuldig zu sein, schmiedet er um zu einer absoluten Pflicht; diese ist kein kategorischer Imperativ, sondern ein göttliches Gebot, das unbedingten Gehorsam verlangt.
Da im 20. Jahrhundert der Begriff der ›Wahrheit‹ unter dem Dauerfeuer der Gegenaufklärung den Rückzug antrat, zog Levinas die äußerste Schlußfolgerung und verkehrte die griechische Rangfolge zwischen Wahrheit und Moral ins Gegenteil: Die Pflicht – nämlich für den ›Anderen‹ grenzenlos verantwortlich zu sein – steht höher als die Wahrheit; die Ethik steht höher als die Ontologie. Levinas ist sicher, daß eine solche Fürsorge ohne Grenzen den Verlauf der menschlichen Geschehnisse erheblich verändern kann: »Daß die unbegrenzte Verantwortung für den anderen – eine totale Entkernung des Selbst – sich in die konkrete Geschichte übersetzen kann, das denke ich.«7
Den ›Anderen‹ auf diese Weise zu sakralisieren zeitigt Folgen, die kein guter Wille ertrüge, falls er bereit wäre, ihnen ins Auge zu sehen. Es gibt nicht ›den Anderen‹; er hat soziologisch und historisch niemals existiert. Es ist ein Kollektivsingular; und solchen Begriffen eignet die Kraft zu verwischen und zu verdinglichen. Der ›Andere‹ suggeriert eine Beziehung zwischen ›ich‹ und ›Du‹. Diese gibt es, außer auf Robinsons Insel, nirgendwo. Man begegnet immer ›den Anderen‹. Und mit dieser Tatsache verwandelt sich das ethische Problem in ein soziales, im Ernstfall sogar in ein kulturelles. Wenn es um ›die Anderen‹ geht, dann befinden wir uns bereits in einem binären ›Wir/Ihr‹ Schematismus, den nicht wir erzeugt haben. Erzeugt hat ihn die bloße Situation selber, aber noch mehr der Wille der ›Anderen‹, als ›Andere‹ gelten und sich behaupten zu wollen. Kombiniert mit spezifischen Rechten, die kodifiziert und schnell einklagbar sind, weil ein Justizsystem sie garantiert, verwandelt dieser Wille jeden noch so bedürftigen ›Gast‹ in einen potentiellen Feind. Die Entschlossenheit, der ›Andere‹ zu bleiben, bedeutet, das ›Gastrecht‹ auszunutzen, um sich dem Recht zu entziehen. Denn das Recht in einer Republik duldet keinen ›Anderen‹, sondern nur Gleiche. Wolfgang Kersting hat den antirepublikanischen Gehalt dieser ›Divinisierung des Anderen‹ benannt: Sie übertönt mit Parolen aus der Bergpredigt die desaströsen Auswirkungen der Koexistenz von unterschiedlichen Lebenswelten, in denen jeweils ›Andere‹ ihren eigenen Normen und Werten gemäß leben; und sie sakralisiert Parallelgesellschaften.8
Der obige Satz von Levinas entzieht dem Wort ›Verantwortung‹ seine Qualität als Kategorie. Denn Kategorien definieren, sie begrenzen. Eine ›unbegrenzte Verantwortung‹ ist ein logisch widersinniger Begriff; sie ist bar aller kategorialen Qualität und bloß ein Schlagwort der moralischen Gefühlsdogmatik, beeindruckend wegen seines erhabenen Klangs. Daß hier politische Theologie lauert, ist nicht zu überhören. Denn in die konkrete Geschichte hineinwirken heißt allzumeist, das Politische selber beeinflussen und den Staat in die Regie nehmen. Die Obsession der grenzenlosen Verantwortung hätte den politischen Raum in der EU in den Jahren 2012 bis 2016 nicht dermaßen verwüsten können, wenn nicht zwei Umstände die Bereitschaft zu ihrer Rezeption erhöht hätten, nämlich neue Evidenzrahmen und der starke Schwund an ›temporaler Distanz‹.
Neue Evidenzrahmen: Sie plausibilisieren immanente Wirkungszusammenhänge. Ein Beispiel dafür bieten die britischen Abolitionisten, die einen Zusammenhang zwischen Zuckerkonsum und Plantagensklaverei herstellten. Die globale Verflechtung der Ökonomie bot sich an als Evidenzrahmen für die Idee, alle ökonomischen Handlungen wirkten sich aus bis in die entferntesten Gegenden der Welt. Solche unbedachte Fernwirkung des privaten Konsums ließ sich transponieren in eine Relation zwischen individuellem Handeln hier und einer Mitschuld am entferntesten Leid und Unrecht. Dieses Modell ließe sich zuschneiden auf die Ökologie, auf das Klima und auf immer weitere Bereiche. Nichtregierungsorganisationen (NGOs) entfalten hierbei eine überschäumende Kreativität. Sie fungieren als Fabriken der diskursiven Multiplikation von Entgrenzungsrhetoriken, welche emphatisch unbestimmte Haftungen für nicht-intendierte Nebenwirkungen beteuern. Das Publikum muß bloß entsprechend ›sensibilisiert‹ sein. Und die wissenschaftliche Petschaft für blindlings fabrizierte Zusammenhänge bestellt man nachträglich bei jenen Fachleuten, die nur allzubereit sind, auf den entsprechenden Zug aufzuspringen. Gelingt es, solche Haftungszusammenhänge zu plausibilisieren, dann läßt sich Verantwortung entgrenzen – über den Globus und durch die Generationen.
Der zweite kulturelle Sachverhalt ist die mangelnde Distanz zum ›Tagesgeist‹. Der Philosoph Michael Großheim hat dieses kulturelle Syndrom brillant erörtert: Eine ansteigende Quote von Europäern erleidet die Tyrannei des Augenblicks und seiner Launen. Sie sind in wichtigen Hinsichten der diachronen Verankerung entledigt, in welcher jede Kultur ihre Menschen halten soll, sie ausstattend mit stabilen Semantiken und sie befähigend, wesentliche Entscheidungen zu treffen – entlang von internalisierten Normen und Werten, und mit offenem Blick auf biographische und kollektive Fristen. In Fristen denken heißt, über die Frist hinausdenken, den Sinn der Frist selber im Auge haben. Wer das nicht vermag, für den wird die Gegenwart zu einem abgetrennten Moment, zu einer Serie von isolierten Augenblicken – die unter Druck sich rasch eschatologisch aufladen. Fristlosigkeit disponiert zu panischen Anfällen und provoziert unter Streß eine garantierte Paranoia. In der Zeitlichkeit lebend, verstreichen uns unentwegt Fristen, denen wir gar keine, bloß geringe oder große Beachtung schenken. Vernünftiges Handeln muß unterscheiden zwischen wichtigen und unwichtigen Fristen. Verflüchtigt sich diese Unterscheidungskraft, dann wird das Handeln sprunghaft und das Denken panisch. Als der sophokleische Ödipus in höchster Bedrängnis sich an jede neu eintreffende Nachricht klammert, beklagt seine Frau Iokaste diese Haltlosigkeit: »Nicht beurteilt er/das Neue bedenkend nach dem Vergangenen/ist jedem Redner ausgeliefert« (v. 916 f).
Ödipus hat die Orientierung verloren, nämlich die Fähigkeit, das Neue zu deuten im Horizont, den das Alte gezogen hat. Wer die Orientierung verloren hat, ist jedem Windchen ausgeliefert wie eine Feder. Von allem Neuen ergriffen zu