Welche Folgen Heideggers Angriff auf die Grundlagen neuzeitlicher Philosophie hatte, ist oft erörtert worden und darf hier beiseite gelassen werden. Letztlich wirkungsvoller als Heidegger haben die Gründungsväter der Frankfurter Schule die Aufklärung unterminiert. In ihrer »Dialektik der Aufklärung« nimmt das rationale Denken seinen Ursprung im Griechentum; es entspringt dem Kampf gegen den Schicksalszwang. Die Vernunft wird geboren als odysseische List der Selbsterhaltung in einer Welt voller übermächtiger Gefahren. Diesen Geburtsmakel kann die Vernunft niemals abstreifen: Vernunft ist wesensmäßig instrumentelle Vernunft und vermag sich darüber nicht zu erheben. Darum trachtete Adorno angestrengt nach einem Modus des Erkennens, der die transzendentalen Schranken der logischen Verfahren durchbricht. Im letzten Aphorismus seiner »Minima Moralia« hören wir:
»Philosophie wie sie im Angesicht der Verzweiflung einzig noch zu verantworten ist, wäre der Versuch, alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten. Erkenntnis hat kein Licht, als das von der Erlösung her auf die Welt scheint: alles andere erschöpft sich in der Nachkonstruktion und bleibt ein Stück Technik.«
Wer wesentliches Erkennen auf Erlösung bezieht, kann den Begriff der Wahrheit dermaßen umgestalten, daß er nichts mehr zu tun hat mit seinem Gebrauch in der bisherigen Tradition: »Das Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen, ist Bedingung aller Wahrheit.«29 Daß Leiden den Impuls gibt, Sinnfragen zu stellen, ist unbestritten; und es ist unbestritten, daß diese Sinnfragen manche Wahrheiten zugänglich machen. Daß aber der Drang, Leiden sprachlich auszudrücken, die Bedingung aller Wahrheit sei, ist grotesk, falls man im Rahmen des vernünftigen Denkens bleibt. Denn mit der Keule des Leidens läßt sich die Vernunft bewußtlos schlagen. Wenn Erkenntnis ihre klassische und ›Kritik‹ ihre kantische Bedeutung ablegen, dann erscheint nur noch jenes Denken als kritisch, das unaufhörlich neue Themen und Gebiete findet, wo sich auftürmendes Unheil immer schwereres Leiden verursacht. Dieses Theorem läßt sich politisch vortrefflich verwerten. Seit einem halben Jahrhundert bringen selbsternannte Opfer aller Couleur ihre Anklagen in Stellung und berufen sich auf Leiden, die nicht selten schlankweg erfunden sind. Wer tatsächlich nach dem Wahren sucht und sein Forschen danach ausrichtet, wird sich vom lautstarken Leiden nicht einschüchtern lassen. Adornos Sentenz erlaubt nicht nur, sondern fordert geradezu dazu auf, just diese Unbeirrbarkeit unter moralischen Verdacht zu stellen.
Ohne Wahrheit keine Wissenschaft. Der Wahrheit den Rang der Leitidee abzusprechen heißt, das Ansehen der Wissenschaft im gesamten öffentlichen Raum zu beschädigen. Im akademischen Milieu lassen sich die Schäden bereits besichtigen: In den Geisteswissenschaften ist die Beschäftigung mit der Methodik, also mit den Regeln des Überprüfens und des Bewahrheitens, dramatisch zurückgegangen. Konstant sinkt die Quote derjenigen Akademiker, die imstande sind, zu prüfen und zu widerlegen. Wenn aber diese Fertigkeit, den eigenen Verstand selbständig zu gebrauchen, seltener wird, dann zerbröselt die Basis der Aufklärung.
Nun erhebt jede Wahrheit den Anspruch auf zwingende Gültigkeit. Denken entlang der Regeln des logischen Bewahrheitens heißt eben: in Grenzen denken und sich den logischen Zwängen ebenso beugen wie den Evidenzen. Vernunftwahrheiten, so etwa mathematische Gesetze, sind weniger bedroht als faktische Wahrheiten. Aber gerade die faktischen Wahrheiten stellen jene ›Grenzen‹ dar, an denen Urteilskraft erworben wird und sich übt. Wenn sowohl die Fähigkeit, den Verstand selbständig zu gebrauchen, seltener wird, als auch die Urteilskraft nicht zur notwendigen Schärfe gelangt, dann verdunstet die Möglichkeit, die Kontroversen argumentativ auszutragen. Und wo das Argumentieren nicht mehr gelingt und unerwünscht wird, dort sehnt sich das Denken nach Bevormundung. Diese vollzieht sich, indem sie bestimmte Denkinhalte verpönt und als unstatthaft ausscheidet. Die Kriterien für solche Aussonderung können moralische, religiöse und politische sein. Die richtige Gesinnung garantiert dann für die Fähigkeit, das ›Richtige‹ vom ›Falschen‹ zu unterscheiden. Dazu mehr in einem späteren Kapitel.
Exkludierter Universalismus –
Lévi-Strauss und die Gleichheit der Kulturen
Die Vereinten Nationen gründen auf einer geschichtsphilosophischen Idee: Es gibt eine einheitliche Menschheit; und diese benötigt einen einheitlichen rechtlichen Rahmen, um in einem gattungsüberspannenden Fortschritt eine immer humanere Welt zu schaffen. Indes, schon beim Verhandeln über die Erklärung der Menschenrechte subvertierte die American Anthropological Association 1947 deren Universalismus mit dem Einspruch:
»Wie kann die vorgeschlagene Erklärung auf alle menschlichen Wesen anwendbar sein und keine Festschreibung von Rechten sein, die nur in Form derjenigen Werte erdacht sind, die in den Ländern Westeuropas und Amerikas vorherrschen? (…) Das Individuum verwirklicht seine Persönlichkeit durch die Kultur: die Achtung der individuellen Unterschiede erfordert demnach die Achtung der kulturellen Unterschiede.«30
Dieser Kulturrelativismus qualifiziert die Menschenrechte als rein westliches Produkt mit zweifelhafter Relevanz für den Rest der Menschheit. Er bekennt sich zur »Ablehnung des Fortschritts- und Perfektibilitätsdenkens der Aufklärung« und pflegt den »Rekurs auf politische Traditionen als Grundlage politischer Ordnungen«, um die politischen Ansprüche des Naturrechts abzuwehren.31 Einer der prominenten Vertreter dieser Sicht war Claude Lévi-Strauss.32 Er lieferte der UNESCO seine »Kleine Geschichtsphilosophie zum Gebrauch für internationale Funktionäre«, wie er später sein Werk »Rasse und Geschichte« etikettierte.
Was nützt es, so lautet dessen Ausgangsfrage, den Rassismus auf der Ebene der Biologie zu eliminieren, wenn er auf der kulturellen zurückkehrt? Also setzte Lévi-Strauss als nicht mehr hintergehbares Axiom die Gleichheit aller Kulturen. Solche Gleichheit anzuerkennen, sollte die Gleichheit der Menschen garantieren. Daß beides sich unauflöslich widersprechen könnte, daran schien niemand gedacht zu haben.33 Einzelne Hochkulturen – so die chinesische und die griechisch-römische – entfalteten technische und zivilisatorische Fertigkeiten, die denjenigen ihrer Nachbarn unverhältnismäßig überlegen waren. Will man diese Tatsache erklären, hat man die Wahl: Entweder sind die betreffenden Menschen als solche von Natur aus ungleich, oder ihre Kulturen sind radikal different im Hinblick auf ihre zivilisatorische Leistungskraft. Zwar überragen die technischen, politischen, zivilisatorischen und wissenschaftlichen Fortschritte der westlichen Kultur augenfällig die Errungenschaften aller anderen Hochkulturen; die Existenz dieser Kultur scheint somit ein heimtückisches Attentat auf das Axiom von der Gleichheit der Kulturen zu sein. Doch das täuscht. Der Abstand der westlichen Hochkultur zu den anderen ist kultursoziologisch geringer als jener zwischen den staatlich organisierten Hochkulturen überhaupt und den vorstaatlichen Gesellschaften. Der Zweifel am Axiom der Gleichheit aller Kulturen wird also nicht vom Gewicht der westlichen Kultur geschürt; vielmehr war die Annahme der Ungleichheit überall verbreitet und selbstverständlich. Erst Adam Ferguson (1767) und dann besonders systematisch und wirkungsvoll Johann Gottfried Herder (1774) konzipierten die Rolle der unterschiedlichen Kulturen auf neue Weise, indem sie ihnen eine Berechtigung an sich zusprachen. Damit war die Frage nach der ›Gleichberechtigung‹ gestellt.
Der Kulturrelativismus hat größte Schwierigkeiten beim interkulturellen Vergleich. Herder hat in seiner Schrift »Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit« das methodische Problem erkannt: Wer über die unterschiedlichen Kulturen nachdenkt, gerät in Versuchung, sie zu bewerten. Diesem Bewerten entkommt man nur, wenn man sich weigert, sie zu vergleichen – »im Grunde also wird alle Vergleichung mißlich«; frühere Stadien der Menschheit dürfe man nicht mit dem »Maasstabe einer andern Zeit« messen. Und eben das wirft er der aufklärerischen Philosophie französischer Prägung vor: »Nur entwickelte sich dagegen auch etwas ganz Anderes, (was ich zwar keineswegs mit jenem zu vergleichen willens bin: denn ich mag gar nicht vergleichen!).«34
Diese Abneigung gegen das Vergleichen als Prinzip des Forschens begründet Hans-Georg Gadamer radikal kulturrelativistisch: »Das Wesen des Vergleichens setzt die Ungebundenheit der erkennenden Subjektivität, die über das