Behält man diesen Kontext im Auge, dann wird verständlich, wieso Lévi-Strauss einen Gewaltstreich wagt: Er negiert die Vorstellung eines unilinearen Fortschritts in der Geschichte. Zum ersten definiert er jeglichen Fortschritt als ein Fortschreiten in eine Richtung, die aus den Vorlieben einer jeden Kultur resultiert. Keine Kultur sei stationär; denn der Eindruck, sie bewege sich kaum, sei eine perspektivische Täuschung, der ein außenstehender Beobachter notwendigerweise erliegen müsse. Zweitens strebe jede Kultur innerhalb ihrer eigenen Zielvorstellung nach besonderer Perfektion und erreiche sie auch oft. Gleiten die unterschiedlichen Kulturen auf divergierenden Bahnen, dann macht die Divergenz die jeweiligen Fortschritte untereinander inkommensurabel. Solche Inkommensurabilität scheint Gleichheit zu garantieren. In der Tat entsteht Ungleichheit dann, wenn Verschiedenes an einem gemeinsamen Maß gemessen wird. Auf Inkommensurabilität pochend, bewahrt der große Anthropologe die differenten Kulturen davor, daß sich zwischen ihnen Ungleichheiten ergeben. Doch die methodische Herstellung von Unvergleichbarkeit bleibt stets ein intellektuell fragwürdiges Unterfangen. Es genügen einige wenige kritische Überlegungen, und jedwede Unvergleichbarkeit zerbröselt. Es ist ein Trugschluß, aus der Unvergleichbarkeit auf Gleichheit zu schließen. Zwar läßt sich behaupten, das Unvergleichbare sei ein ›gleicherweise Berechtigtes‹. Wer jedoch daraus folgert, daß aus solcher ›Geichberechtigung‹ sich ›Gleichheit‹ ergebe, bewegt sich in schwächelnder Logik. Zudem geht die Rechnung empirisch nicht auf: Lévi-Strauss vermutet insgesamt mehrere tausend Kulturen, doch er nennt in »Rasse und Geschichte« nur wenige mögliche evolutionäre Richtungen, nämlich neun. Selbst wenn es ein paar mehr wären: Auf jeder evolutionären Straße rempeln sich die Haufen vorwärtsdrängender Kulturen. Alle Kulturen auf demselben Evolutionsast sind mithin Konkurrenten; zweifelsohne sind ihre Fortschritte untereinander vergleichbar. Miteinander konkurrierend erweisen sie sich mitnichten als ›gleich‹; denn auf ihrer Suche nach Perfektion sind jene schneller als diese und die einen gründlicher oder erfolgreicher als die anderen. Selbstverständlich muß es dabei Gewinner und Verlierer geben. Das Konzept der Gleichheit der Kulturen ist somit in sich logisch unstimmig und empirisch falsch.
Zwanzig Jahre später benannte Lévi-Strauss offenherzig diese Widersprüche. 1971 war er eingeladen, mit einem Vortrag zum Thema Rassismus eine UNESCO-Tagung zu eröffnen. Der Vortrag – »Race et culture« – wurde zum »assez joli scandale«.36 Lévi-Strauss schmiedete das Problem um: Der szientistische Rassismus ist widerlegt und erledigt, somit von randseitigem Belang. Die ernstzunehmenden Phänomene sind Xenophobie und Ethnozentrismus; ihnen entquillt eine alltägliche Abwertung des Menschen durch den Menschen, welche sich bedauerlicherweise überall findet. Jede Kultur enthält Lévi-Strauss zufolge in sich eine Eigenlogik und damit eine Selbstbewertung, die soweit gehen kann, daß man die ›Werte‹ der anderen Kultur nicht einmal zu bemerken imstande ist. Nähe bedroht die kulturelle Eigenart. Um diese zu bewahren, sind die anderen − im Zweifelsfalle − als selbständige Kulturen zu verleugnen. Viele ›primitive‹ Ethnien nennen sich selber »die Menschen« und geben »den anderen« Namen, die das Menschsein negieren; sie sprechen diesen das Menschsein ab. Nicht die menschliche Natur treibt zur Abstoßung anderer. Selbst wenn die Menschen von Natur aus ›gut‹ wären, kämen sie nicht umhin, die ›anderen‹ abzuwerten; denn sie sind notwendigerweise Kulturwesen, und ihre eigene Kultur ist ihnen zur zweiten Natur geworden. Gerade wegen der hohen Loyalität zur eigenen Kultur begegnen die Menschen anderen Kulturen mißtrauisch oder feindlich. Die »Abwertung des anderen« entstammt nicht irgendeinem ›Rassismus‹. Den »anderen« abzustoßen, ist eine Funktion jedweder Kultur, also der Kultur überhaupt, solange sie eine partikulare bleibt, die sich von anderen partikularen Kulturen unterscheidet.
Bald erhob sich der Vorwurf, Lévi-Strauss vertrete einen holistischen Kulturbegriff, und aus diesem ergebe sich eine solche Abstoßung; doch in der historischen Wirklichkeit bestünden alle Kulturen aus Mischungen und Synkretismen. Dieser Einwand ist kurzsichtig. Denn nur für die Außenstehenden – und Kulturwissenschaftler sind solche –, sind alle Kulturen ebenso wie alle Religionen ›an sich‹ hybride Formationen. Soziologisch ist dieser objektive Tatbestand nicht relevant, weil die innerhalb der betreffenden Kultur lebenden Menschen ihre eigene Kultur niemals als ein ›Hybrid‹ ansehen, sondern als ein einheitliches Sinnsystem. Denn nur zureichend kohärente Sinnsysteme können orientieren. Die Akteure selber sind notwendigerweise Essentialisten und ›Holisten‹. Dem trägt Lévi-Strauss Rechnung. Die politischen Konsequenzen liegen auf der Hand: Weder der europäischen Hegemonie noch dem sogenannten Kolonialismus läßt sich die Abwertung des anderen anlasten. Überall in der Dritten Welt, welche brüderlich vereint stehen sollte, sind demnach Formen des rassischen Hasses endemisch. Damit sprach Lévi-Strauss eine historische Wahrheit aus; aber sie auszusprechen hieß, den Sündenbock für alle Übel − die damalige westliche Suprematie − aus dem Spiel zu nehmen.
So enthält »Race et culture« eine düstere Vorhersage: Wenn es erstens unmöglich ist, sich mit den »anderen« zu vermengen und gleichzeitig mit sich identisch zu bleiben, und wenn zweitens der Mechanismus gegenseitiger Abstoßung gar nicht außer Kraft zu setzen ist,37 und wenn drittens die demographische Explosion zu Agglomerationen ungekannter Größen führt sowie zu kulturellen Vermengungen bisher unvorstellbaren Ausmaßes − dann müssen interkulturelle Feindschaften entstehen, wie es bislang noch keine gegeben hat. Es wird, so prophezeit Lévi-Strauss, ein »régime d’intolérances exacerbées« aufsteigen, das alle bisherigen »haines raciales« zu schwachen Abbildern macht. Lange vor Samuel Huntington hat Lévi-Strauss künftige »clashes of civilizations« angekündigt.
Kommt der Vielfalt der Kulturen ein Eigenwert zu, und ist es geboten, jedwede Besonderheit zu bewahren, dann ist das Vorurteil eben nicht mehr zu bekämpfen, sondern man hat es aufzuwerten. Der Kampf gegen die Diskriminierung des ›anderen‹ wird illegitim. Gewiß, dann ist das Bemühen der UNESCO, überall auf ›gegenseitige Verständigung‹ hinzuwirken, widersinnig: Jede Kultur hat ihren Eigenwert, und die dümmsten Mythen dürfen Achtung beanspruchen, weil sie zum geistigen Repertoire irgendeines Teils der Menschheit gehören.
Alle politischen Massenmörder berufen sich auf die Besonderheit ihrer Kultur. Unter dem Schutzschild der gegenseitigen Achtung ist jede Kultur befugt, in ihrem Inneren die Menschenrechte in einem Ausmaß zu mißachten, wie sie allein es für richtig befindet. Eine Einmischung von außen hieße ja, die Achtung zwischen gleichwertigen Kulturen zu verletzen. Die »Eigenart«, welche faktisch immer eine Resultante semantischer Kämpfe ist, homogenisiert sich unter politischem Hochdruck und verwandelt sich in ein stählernes Gehäuse. Sie macht ihre Menschen zu Insassen im unentrinnbaren Käfig ›ihrer‹ Kultur. Alain Finkielkraut hat dies in »Die Niederlage des Denkens« ausgedrückt: Die UNESCO verfällt jener Idee eines »Volksgeistes« Herderscher Prägung, welche das reaktionäre Denken gegen den Universalismus der Aufklärung in Stellung brachte. Der Ethnopluralismus unterwirft den einzelnen Menschen den Launen seiner Kultur ebenso sehr, wie die Rassenlehre es einst tat.
Schlimmer noch: Wenn alle Kulturen in sich selber die höchste Wertigkeit finden und es kein ›Gesetz‹ über ihnen gibt, dann hat die exterminatorischste Kultur dieselbe Daseinsberechtigung wie alle anderen, glaubt sie doch ernsthaft, andere Kulturen und Völker ausrotten zu müssen, um selber leben zu können. Sogar in diesem Glauben folgt sie noch ihren eigenen Werten. Auf den kulturalistischen Hasen wartet längst ein wohlbekannter Igel: Mit welchem Recht könnte man den Nationalsozialismus verurteilen? Die Versklavung der Osteuropäer und die Vernichtung der Juden gehörte zur essentiellen Besonderheit − zur ›Differenz‹ − der emergierenden NS-Kultur. Diese liefert das konsequenteste Exemplum dafür, wohin die Selbstermächtigung treibt, die jeweilige kulturelle ›Eigenart‹ zu verteidigen – und zwar mit denjenigen Mitteln, die man selber für geboten hält. In demselben Maße wie die Geltung universaler Werte entweicht, hört Auschwitz auf, ein Verbrechen zu sein.
Lévi-Strauss