Diese beiden Sachverhalte erklären weitgehend die erstaunliche Empfänglichkeit des Zeitgeists für das Dostojewskij-Theorem mit seinen politmoralistischen Travestien. Letztere haben innerhalb einer Generation die im Öffentlichen zulässige politische Semantik umgewälzt. Wir stehen nun den Resultaten gegenüber, von denen fünf mit obszöner Aufdringlichkeit die Diskussionen belagern.
Erstens hat diese diskursive Konstellation ein neues Ideologem der ›Offenheit‹ erzeugt. Dieses entspricht exakt den Vorgaben der Levinas’schen Philosophie: Sie bekundet wenig oder gar kein Interesse am ›Anderen‹ als Fremden. Davor hatte Arnold Gehlen gewarnt: »Wer jeden Menschen schlechthin in seiner bloßen Menschlichkeit akzeptiert und ihm schon in dieser Daseinsqualität den höchsten Wertrang zuspricht, kann die Ausbreitung dieses Akzeptierens nicht mehr begrenzen, denn auf dieser Bahn gibt es keinen Halt.«10 Unwichtig ist es, den Fremden zu verstehen; nicht sein Sprechen zählt, sondern nur sein menschliches Antlitz, dessen Anblick mich unter den absoluten Imperativ stellt, ihn nicht allein zu schonen, sondern ihm grenzenlos zu helfen. Diese Hilfe sabotiert, wer es wagt, nach den Zeiträumen für das Helfen zu fragen und nach dem Verteilen von knappen Ressourcen; denn absolute Imperative setzen sich über Zeit und Ressourcen hinweg. Das absolute Gebot verlangt, dem ›Anderen‹ keine Fragen zu stellen und womöglich von den Antworten das eigene Handeln abhängig zu machen. Verstehen ist geradewegs untersagt. Verstehen hieße, den Fremden nach seinen kulturellen Besonderheiten fragen. Und aus dieser Frage entquellen sofort weitere Fragen, zuvorderst die, ob das kulturelle Sein des ›Anderen‹, dem wir nächstenliebend helfen, sich mit unserem eigenen kulturellen Sein verträgt oder nicht, bzw. an welchen Stellen die Divergenzen zu Unverträglichkeiten werden. Was, wenn wir entdeckten, daß der ›Andere‹ mitnichten bereit ist, uns als gleichwertige Menschen anzuerkennen? Was, wenn der ›Andere‹ ein Feind ist, welcher die Lebensweise des Helfers radikal ablehnt und kompromißlos bekämpft?
Die ›Divinisierung des Anderen‹ bekommt hier plötzlich einen strategischen Sinn: Sie schneidet jede solche Frage ab und unterwirft sie dem Verdacht: Wer fragt, scheint nach Gründen zu suchen, um sich der Pflicht zur Nächstenliebe zu entziehen. Welcher Art der ›Andere‹ kulturell sei und was dieses Sein für uns politisch bedeute, dies nachzufragen wird geradezu anstößig. Genausowenig wie das grenzenlose Akzeptieren zuläßt, Fragen nach dem kulturellen Sein zu stellen, gestattet es, nach Recht zu verfahren und Gesetze anzuwenden. Wo der Imperativ der Entgrenzung waltet, dort gilt kein Recht und kein Gesetz, dort gelten auch nicht die Menschenrechte; denn diese definieren und begrenzen die Rechte von Fremden. Das absolute Gebot bricht jedwedes Recht; somit subvertiert das entgrenzte Akzeptieren notwendig die Verfassung und die Fundamente einer Republik.11 Die kognitive Dimension ist dem Gebot bedingungslos untergeordnet; denn die Ethik hat Vorrang vor der Ontologie. Das Wissen dermaßen außer Kraft zu setzen, benimmt aller Besinnung den reflexiven Atem. Zudem bestürzt die kompromißlose Entintellektualisierung. Offenheit ist nicht mehr Offenheit des Geistes und des Erkennens; sie ist heruntergestutzt auf die Offenheit des Ohres für den Hilferuf des ›Anderen‹, genauer: für den Befehl, dem bedingungslos zu gehorchen ist. Diese Philosophie ist keine; sie funktioniert nur mit ausgeschaltetem Intellekt. Sie ist buchstäblich eine Ideologie der Entgrenzung, für die in höchstem Grade gilt, was Régis Debray auf alle Ideologien münzte: »In einer Ideologie zählen am wenigsten die Ideen.«
Zweitens hat die Obsession des uferlosen Helfenmüssens Breschen geschlagen, um die Öffentlichkeit mit Phantasmagorien eines politischen Heilszustandes zu überfluten. Wenn Verantwortung keine Kategorie mehr ist und zwischen Tun und Folgen keine verbindlichen Bezüge mehr herstellt, dann läßt sich jedes moralische Gebot ins politische Delirium treiben. Die Aktivisten kommen nicht umhin, jegliche Diskussion um das Ausmaß dieser Pflicht zu hysterisieren. Der hysterische Dauerton erzeugt die komplementäre Paranoia: Man braucht Schuldige, wenn das Unerfüllbare sich nicht erfüllt oder wenn erwartungswidrige Vorkommnisse sich der Erfüllung in den Weg stellen.
Drittens färbt sich das politische Vokabular religiös. Das mag anfangs als ein reizender Rückgriff auf entschwindendes Bildungsgut erscheinen. Doch die rhetorische Wirkung von religiösen Metaphern belebt Sinngehalte, die sich in einem neoreligiösen Gedankenagglomerat kondensieren. Wenn diese Welle anhält, dann wird der geistige Haushalt der nächsten europäischen Generation untauglich für wissenschaftliche und politische Rationalität.
Viertens wächst in der politischen Klasse die Bereitschaft, das ›Richtige‹ bedenkenlos durchzudrücken – gegen die Tatsachen und gegen den Volkswillen. Vor allem unter den Brüsseler Eurokraten macht sich eine unverhohlene Verachtung der Volkssouveränität bemerkbar. Aus dieser Bedenkenlosigkeit speist sich der permanente Gebrauch von Pflichtlügen und die Transformation des Öffentlichen in eine Sphäre legitimer Verlogenheit.
Fünftens entstehen unerwartete Allianzen. Das multinationale Kapital befleißigt sich des Vokabulars der ›Offenheit‹ für Menschenströme wie für Kapitalflüsse. Und NGOs, Kirchen und Großkapital kooperieren mit Multikulturalismus und Eurokratie – unter einem Banner, das prangt mit Fragmenten der Bergpredigt.
Diese fünf Aspekte werden im neunten Kapitel noch ausführlich beleuchtet werden. Meine Überlegungen begeben sich im folgenden auf einen scheinbaren Umweg, auf dem zwei Formen des Antiuniversalismus ihrer Erörterung harren.
Entwertete Wahrheit –
der Preis des Antihellenismus
Alle Aufklärung steht und fällt mit der Bemühung um wissenschaftliche Wahrheit. Sie ist die regulative Idee aller Erkenntnis. Ohne sie verlieren die Geltungsansprüche des vernünftigen Argumentierens ihre Grundlage. Nun stehen die Kulturwissenschaften seit über vier Jahrzehnten unter dem Bann jenes Diktums von Nietzsche: »Es gibt keine Tatsachen, es gibt nur Interpretationen.« Alle wesentlichen Thesen des radikalen Konstruktivismus sind letztlich von diesem Satz bedingt. Wenn die Aussagen über objektive Sachverhalte nur Interpretationen wären – ohne jedweden sachlichen Bezug zur ausgesagten Wirklichkeit –, dann wäre Wissenschaft überhaupt unmöglich.
Die Wahrheit nicht als regulative Idee gelten zu lassen, ist streng genommen keine erkenntnistheoretische Position, sondern eine Pose der Skepsis. Am pointiertesten hat der Sophist Gorgias um 430 v. Chr. die skeptischen Axiome formuliert: Erstens, es existiert nichts; zweitens, falls doch etwas existiert, dann können wir es nicht erkennen; drittens, falls es doch erkennbar wäre, so könnten wir diese Erkenntnis anderen nicht mitteilen.12 Zwar geht die Dekonstruktion von anderen Voraussetzungen aus als die alte Skepsis,13 doch es ergeben