Die Öffentlichkeit ist eine notwendige Bedingung für Denkprozesse, die auf Wahrheit zielen. Einsame Denker riskieren, daß sie auf vereinseitigte Weise denken; erst wenn Andersdenkende oder Mitdenkende ihre Einwände vorbringen, kann die individuelle Vernunft sich korrigieren. Das Fortschreiten in der Erkenntnis durch Korrektur erheischt kritischen Austausch – ohne Zensur und ohne Behinderung. Die »Existenz der Vernunft« selber ist daher auf Freiheit gegründet, nämlich auf die Freiheit, seine Meinung in der Öffentlichkeit auszusprechen.10 Öffentlichkeit ist somit beides, sowohl eine transzendentale Bedingung der Vernunft – transzendental, obwohl sie eine historische Errungenschaft ist –, als auch ein unabdingbares Medium ihrer Tätigkeit.
Nun zur zweiten Komponente der politischen Vernunft, nämlich zur Urteilskraft. Sie meint ein menschliches Vermögen und ist daher eine transzendentale Bedingung im strikten Sinne, nämlich eine Bedingung für die Möglichkeit, zu Erkenntnissen zu gelangen. Ohne Urteilskraft kann die politische Vernunft ebensowenig funktionieren, wie die theoretische Vernunft ohne Verstand operieren kann. Urteilskraft meint nicht das bewundernswürdige Gespür dafür, Macht zu erwerben, zu erweitern und zu erhalten, also die machiavellistische Intelligenz. Und sie meint auch nicht die politische Klugheit (Phronesis) des Aristoteles. Vielmehr bezeichnet sie ein analytisches und zugleich synthetisches Vermögen. Den Verstand, sagt Kant, könne man lehren, nach Regeln zu denken. Die Urteilskraft hingegen sei ein Vermögen, das sich durch Üben verbessern läßt, falls die natürliche Begabung es in ausreichendem Maße mitbringe. Aber nur dann. Denn: »Der Mangel an Urteilskraft ist eigentlich das, was man Dummheit nennt, und einem solchen Gebrechen ist gar nicht abzuhelfen.«11 Sogar stumpfe Köpfe könnten es bis zur Gelehrsamkeit bringen, denn diese sei eine Frage der Verstandesfunktionen. Daher treffe man nicht selten auf gelehrte Menschen mit eingeschränkter Intelligenz. Kant rührt hier an eine dauernd schmerzende Stelle der geistigen Welt. Er selber hat indes ein starkes Argument dafür geliefert, daß auch Urteilskraft mittels Übung zu erwerben sei. Hannah Arendt entdeckte hier den verborgenen Kern von Kants politischer Anthropologie, nämlich die menschliche Befähigung, ein politisches Wesen zu sein.12 An der betreffenden Stelle spricht Kant davon, wie der ›Gemeinsinn‹ (sensus communis) die geistige Möglichkeit biete, Irrtümer zu vermeiden:
»Allgemeine Regeln und Bedingungen der Vermeidung des Irrtums überhaupt sind 1) selbst zu denken, 2) sich in der Stelle eines andern zu denken, und 3) jederzeit mit sich selbst einstimmig zu denken. – Die Maxime des Selbstdenkens kann man die aufgeklärte; die Maxime, sich in anderer Gesichtspunkte im Denken zu versetzen, die erweiterte; und die Maxime, jederzeit mit sich selbst einstimmig zu denken, die konsequente oder bündige Denkart nennen.«13
Das ist verwunderlich. Will man Irrtümer vermeiden, dann müßte es doch um Erkenntnis gehen; daher müßte Kant eigentlich von den kognitiven Vermögen sprechen, also von Verstand, Vernunft, Einbildungskraft und Urteilskraft. Statt dessen nennt er drei Maximen, also drei Anweisungen für Tätigkeiten. Maximen zielen aufs Verhalten; selbst wenn sie nicht direkt moralisch zu nennen sind, so sind sie auf jeden Fall von ethischer Qualität. Der ›Gemeinsinn‹, welcher vor Irrtümern schützen kann, ist somit letztlich eine Kombination von drei ›Haltungen‹. Und solche sind selbstverständlich erlernbar und durch Übung zu steigern. Von diesen drei Maximen ist die mittlere von überragender Bedeutung für die Heranbildung der Urteilskraft. Die »erweiterte Denkungsart« beinhaltet, daß der Mensch über sein eigenes Urteil reflektiert, indem er einen allgemeinen Standpunkt ersteigt; und das gelingt, wenn er gelernt hat, die Standpunkte anderer einzunehmen.
Was Kant im Hinblick auf die bestimmende Urteilskraft Dummheit nannte, dessen Analogon begegnet uns täglich und allerorten, wenn Politiker und Kommentatoren historische Diagnosen und politische Prognosen abgeben. Dabei geht es immerhin um den Gebrauch jenes sensus communis im allgemeinen und der reflektierenden Urteilskraft im besonderen. Das Risiko, sich zu blamieren, ist besonders groß, weshalb quer durch das gesamte politische Spektrum ein breiter Konsens besteht, derlei später mit Schweigen zu übergehen. Doch gerade an solchen diagnostischen und prognostischen Irrtümern läßt sich vieles über den vernünftigen Gebrauch der Urteilskraft lernen. Gehen wir sechs Dekaden zurück. Es schien 1955 gute Gründe zu geben gegen die Wiederaufrüstung der Bundesrepublik. Sie erwiesen sich nachträglich als schwach und letztlich als haltlos; aber das Anliegen, sie vorzubringen, war in der historischen Situation nachvollziehbar. Ganz anders verhielt es sich, als in den achtziger Jahren das Thema der Wiedervereinigung Deutschlands diskutiert wurde. Die Reihe derjenigen Historiker, die sich gegen eine solche aussprachen, ist lang: Kurt Sontheimer, Lutz Niethammer, insbesondere aber Hans Mommsen, Heinrich August Winkler und Hans-Ulrich Wehler. Wehler warf den Andersdenkenden eine »schon pathologische Mißachtung einer Grundtatsache der internationalen Politik« vor;14 Winkler warnte, eine Wiedervereinigung Deutschlands geriete zu einer »Wiederherstellung des Deutschen Reiches«.15 Pikant ist dieser Sachverhalt, weil schon Anfang der achtziger Jahre Berliner Intellektuelle Wetten darauf abschlossen, wann und wie der Ostblock zusammenbrechen würde und wann und wie es zur Wiedervereinigung käme. Doch die hysterischen Beschwörungen der Wiederkunft eines bösen Reiches begleiteten sogar noch die Debatte um die Verlegung der Hauptstadt. Unter den Prominenten hielt Jürgen Habermas am längsten an den Schreckbildern fest. Eine Irrtumsanalyse hält Lehren bereit – vor allem betreffs der Urteilskraft.
Ein weitgehender Schwund der Urteilskraft kann demnach Intellektuelle befallen, die professionell mit politischer Diagnose befaßt sind, sobald es um Themen geht, die ihre Identität, ihre wesentliche Zugehörigkeit berühren. Als Remedium dient die zweite Maxime des Kantischen sensus communis, nämlich das Gebot, die »erweiterte Denkungsart« zu pflegen, also sich auf die Standpunkte anderer zu stellen und deren Ansichten und Gründe so zu durchdenken, als seien es die eigenen. Der reflektierende Mensch soll sich »über die subjektiven Privatbedingungen« des eigenen Urteils erheben.16 Das bedeutet, sich in Gedanken in ein Unbeteiligtsein versetzen, somit ein »interesseloses« Betrachten üben und eine ästhetische Haltung einnehmen. Wer betrachtet, also Kontemplation betreibt, erhebt sich per definitionem über die besonderen Bedingungen seines subjektiven Urteils. Der Gegensatz zwischen Zuschauer und Akteur kommt hier zur Wirkung, wie Hannah Arendt sagt: »Der Akteur ist per se parteilich.«17 Umgekehrt hat der Soziologe Pierre Bourdieu betont, wie wichtig es für den sozialen Erfolg von Akteuren ist, daß sie sich auf den sozialen Feldern routiniert und mühelos bewegen, was ihnen desto besser gelingt, je intensiver sie die Zwänge, Gebote und Vorurteile ihres sozialen Feldes verinnerlichen und sich einverleiben, um sich einen Habitus anzueignen, der sie befähigt, quasi automatisch die Lösungen zu finden, die sie benötigen, um sich zu behaupten. Eben diese Absorbierung des Geistes ist das größte Hindernis für die unparteiliche Reflexion, für das, was Bourdieu die ›scholastische Weltsicht‹ nennt. Wenn nicht das kluge Verhalten im Hinblick auf den sozialen Erfolg zählt, sondern die Möglichkeit, vorurteilslose Einsichten zu gewinnen, dann gilt: »Also ist der Rückzug aus der direkten Beteiligung auf einen Standpunkt außerhalb des Spiels eine conditio sine qua non allen Urteils.«18 Denn der Zuschauer hat die größte Chance, unparteilich zu sein, und ist daher der ideale Richter.
Diese »erweiterte Denkungsart« spielte bei der Grundlegung der Geisteswissenschaften im 19. Jahrhundert eine überragende Rolle. So vor allem bei Friedrich Schleiermacher, dem Begründer der wissenschaftlichen Hermeneutik; so auch bei den Historikern Leopold von Ranke, Johann Gustav Droysen und Jacob Burckhardt. Hermeneutisches Training in einer universitären Fachwissenschaft bietet freilich keine Gewähr dafür, daß man ein geschärftes Urteilsvermögen auch für andere Dinge hätte; und Propheten sind wir alle nicht. Anderseits ist nicht zu bestreiten, daß bei Intellektuellen eine Korrelation zwischen diagnostischer Begabung und prognostischer Treffsicherheit besteht. Dabei ist die »erweiterte Denkungsart« maßgeblich. Doch diese zu gebrauchen in politischen Belangen ist um so schwieriger, je mehr die Intellektuellen sich engagieren und je ›parteilicher‹ ihre Engagiertheit sie macht. Die diagnostischen Fähigkeiten vermindern sich in der Folge erheblich, die prognostischen verschwinden ganz.
Urteilskraft und Geschichtlichkeit
Damit