Mannigfaltige geistige Strömungen mündeten in jene Situation, die es zuließ, am Ende des 20. Jahrhunderts die Begriffe ›Wahrheit‹ und ›Objektivität‹ in den Kulturwissenschaften zu diskreditieren, während gleichzeitig das Genom entschlüsselt wurde, die Herstellung künstlicher Intelligenz sich rasant beschleunigte, die Theorie der schwarzen Löcher sich bestätigte, die dunkle Materie sich zum Forschen anbot und der Nachweis von Gravitationswellen nur noch eine Frage von Jahren war. Daß die Kulturwissenschaften auf ein vorkritisches Stadium zurückdrifteten, rührt aus dem massiven Wandel in den akademischen Karrieren und aus dem weitgehenden Verlust an basaler Bildung, insbesondere was die kantische Philosophie angeht. »Die Grundfrage der ›Kritik der reinen Vernunft‹ läßt sich durch den Begriff der Objektivität bezeichnen«, schreibt Ernst Cassirer.14 Kant hat in seiner ersten Kritik die gesamte ›Transzendentale Analytik‹ dafür gebraucht, um das Objektivitätsproblem auseinanderzulegen und den Skeptizismus Humes zu widerlegen: Zum ersten gibt es eine äußere Wirklichkeit, eine objektive Realität unabhängig von unserem Bewußtsein. Die transzendentalen Kategorien, also die subjektiven Bedingungen des Erkennens, korrespondieren mit der Beschaffenheit der objektiven Wirklichkeit. Wissenschaftliche Erkenntnis ist objektiv, allgemein und notwendig. Zum zweiten können logisch korrekte Erkenntnisse ihren Gegenstand verfehlen; sie sind folglich empirisch korrigierbar. Fortschritt in der empirischen Erkenntnis ist daher möglich und erwartbar.15 Drittens nennt Kant seine eigene Philosophie einen ›empirischen Realismus‹. Daher hält er an der Korrespondenztheorie fest: Erkenntnis muß mit ihrem Gegenstand übereinstimmen. Viertens ist die äußere Wirklichkeit vollständig erkennbar, insofern sie als Erscheinung in den Bereich möglicher Erfahrung fällt. Daher ist Fortschritt im Erkennen möglich.16
Kant schlug sich auf die Seite der ›Objektivisten‹, weil er den menschlichen Fortschritt nicht zuletzt an die Wissenschaft gebunden sah und folglich die Möglichkeit objektiver wissenschaftlicher Erkenntnis aufzeigen musste.17 Das fundamentalste Werk des modernen Denkens richtet sich just gegen jene skeptischen Annahmen, welche der radikale Konstruktivismus wiederholt, insofern er die Möglichkeit von wissenschaftlicher Erkenntnis ebenso bestreitet wie das Vorhandensein einer ›objektiven Realität‹. Es ist notwendig, daran zu erinnern, weil radikale Konstruktivisten häufig Kants Namen im Munde führen.
Eine besondere Variante der Negierung von verbindlicher Wahrheit hat Michel Foucault geboten. Solange er noch seine Diskurstheorie pflegte, ging er davon aus, daß die Sinnsysteme unterschiedlichster Epochen sich dermaßen voneinander unterschieden, daß ihre Erkenntnisweisen untereinander inkommensurabel waren. Auf dieselbe Weise waren die Wissenssysteme der einzelnen Kulturen einander fremd und ohne Möglichkeit von Vermittlung. Der Anspruch der Philosophie, zu universell gültiger Erkenntnis zu kommen, sei demgemäß ein irrtümlicher. Dagegen obliege es der Postmoderne, unentwegt neue Wahrheiten zu erschließen, die keine Verbindlichkeit beanspruchen, zumal das Erkenntnissubjekt selbst jeglicher Pflicht enthoben ist, sich irgendeine Rechenschaft abzugeben: »Alles was ich in der Vergangenheit behauptet habe, ist völlig bedeutungslos.«18
Ob eine Verständigung zwischen den verschiedenen kulturellen ›Wahrheitsregimen‹ möglich sei, hat Foucault nirgendwo argumentativ erörtert. Dieses Versäumnis behob François Lyotard. Für ihn war evident, daß die Verschiedenartigkeit der Kulturen unüberbrückbar war, weil die »Vielzahl heterogener Diskursfamilien« untereinander unübersetzbar und inkommensurabel seien, denn es fehle ein ›Metadiskurs‹.19 An Hand der Thesen des Holocaust-Leugners Faurisson kam er zum Schluß, daß es nicht möglich sei, Katastrophen oder Ereignisse überhaupt in sprachlicher oder sonstwelcher zeichenhaften Form darzustellen.20 Eine radikale Diskontinuität zwischen Geschehen und Sinn behauptend, stellte er sich auf den Boden des dritten Axioms von Gorgias und kokettierte mit dem zweiten. In seiner Abhandlung »Le différend« begründete er 1983 seine Thesen auf sprachphilosophische Weise: Zum einen, daß die menschliche Sprache nicht geeignet sei, angemessene Urteile zu formulieren; denn Argumente seien nicht deswegen stark, weil sie logisch richtig oder unrichtig wären, sondern weil sie rhetorisch überzeugten. Zum anderen daß es keine übergreifende Regel zur Verwendung von Sätzen gebe, folglich auch kein logisches Verketten der Sätze; statt dessen blieben nur Sprachspiele entlang von diskursiven Konventionen.21 Solche Sprachspiele lassen ein regelrechtes Beweisverfahren nicht zu; ein Zwang zur Begründung müßte die Vielzahl möglicher Ideen und ihre ständige Innovation unterdrücken. Sprachspiele sind letztlich Teil einer ›allgemeinen Agonistik‹, also reine Machtspiele. Karl-Otto Apel und Manfred Frank kommentierten, daß damit die Vernunft verabschiedet werde.22 In der Tat. Lyotard scheut nicht davor zurück, die politischen Konsequenzen zu ziehen; die Menschenrechte, so hören wir von ihm, gehören zu den »verheerenden Wirkungen des Imperialismus (…) auf die einzelnen Kulturen«.23 Wir werden im fünften Kapitel sehen, aus welchem fragwürdigen Arsenal Lyotard diese Ideen entliehen hat. Fragt man, wie es zu dieser Argumentation kommen konnte, dann bedarf es eines Rückblicks. Die Feindschaft gegen das vernünftige Denken schwoll an, als angesichts des Ersten Weltkrieges Intellektuelle nach einem Schuldigen an der europäischen Urkatastrophe suchten und ihn in den hellenischen Grundlagen fanden. Dieser Antihellenismus gipfelt in Leo Schestows Buch »Athen und Jerusalem« (1937). Es bekämpft das mit den Mitteln der wissenschaftlichen Vernunft gewonnene Wissen und vor allem die auf Vernunft gegründete Philosophie: »Das Wissen befreit den Menschen nicht, sondern verknechtet ihn!« Der Schlachtruf lautet: Nieder mit dem Wissen – es lebe der Glaube: »Und in diesem letzten Kampf, einem Kampf auf Leben und Tod, wird es dem Menschen vielleicht gelingen, endlich die wahre Freiheit zurückzuerlangen, die Freiheit der Unwissenheit, die Freiheit vom Wissen, die der erste Mensch eingebüßt hatte.«
Das Wissen verknechtet, weil es einer auf den Geist wirkenden Notwendigkeit gehorcht, nämlich der Pflicht, logisch zu begründen. Diese Knechtschaft hat der Vernunft ihre große weltgeschichtliche Chance gegeben. Gerade diese verfemte Notwendigkeit stiftet intersubjektive Überprüfbarkeit und gewährt dem Erkannten allgemeine Verbindlichkeit, also universale Gültigkeit. Dagegen setzt Schestow eine Lösung, die aus allen Aporien der Vernunft herausführen und in unser Denken eine neue Dimension hineintragen soll, nämlich »den Glauben«.
Die Umpolung des Denkens auf den Glauben ruft nach einer epochalen Entscheidung, wie das im apokalyptischen Denken sowohl der Rechten als auch der Linken fast immer der Fall ist. Es gilt, »diesen letzten Kampf, einen Kampf auf Leben und Tod« zu führen – gegen die Vernunft überhaupt, gegen das Hellenische schlechthin.24 Schestows Angriff auf die kulturellen Grundlagen des wissenschaftlichen Denkens ist konzipiert als Kampf zwischen zwei Kulturen:
»Darum kann die jüdisch-christliche Philosophie weder die Grundprobleme, noch die Denktechnik der rationalen Philosophie sich zu eigen machen. Wenn Athen urbi et orbi verkündet: … ›willst du dir alles unterwerfen, so unterwirf dich der Vernunft‹ – so hört Jerusalem darin die Worte heraus: ›Das alles will ich dir geben, so du niederfällst und mich anbetest‹, und antwortet: ›Heb dich weg von mir Satan! Denn es steht geschrieben: Du sollst anbeten Gott, deinen Herrn, und ihm allein dienen‹.«25
Nietzsche hatte die Vernunft als eine Hure des Willens zur Macht entlarvt. Schestow folgt ihm, allerdings faßt er Ziele ins Auge, die jenen von Nietzsche diametral entgegengesetzt sind. Schestow erklärt das Griechentum zum existentiellen Feind. Dieser Griechenhaß ist bisher kaum beachtet worden. Anscheinend hat nur Derrida bemerkt, daß der kulturphilosophische Antihellenismus an politischer Wucht dem Antisemitismus in nichts nachsteht.26 Leo Schestows Fernwirkung ist nicht zu unterschätzen. Für Emmanuel Levinas stellte ›Jerusalem und Athen‹ und die Opposition von Hellenischem und Jüdischem den zentralen Bezugspunkt dar.27 Von ihm nahm er den Impuls, das Postulat aufzustellen, daß vor der Ontologie die Ethik stehe und vor der vernünftigen Einsicht der gottgegebene Befehl. Jacques Derrida hat mit Argumenten der Hegelschen Logik die Levinas’sche Scheidung von ›Selbst‹ und ›Anderem‹ widerlegt; damit war auch der Vorrang der Ethik vor der Ontologie philosophisch hinfällig.28