Dahinter steht der einfache Sachverhalt, dass wir aus uns heraus nicht zur göttlichen Liebe (agape) fähig sind. So besteht also darin die entscheidende christliche Lebenskunst, sich ständig der Liebe Christi auszusetzen, in ihr zu bleiben, sich von ihr füllen und umspülen zu lassen.
Wem auch das noch zu blass ist, der bedenke, dass uns auch Folgendes mit dem Empfang von Liebe gegeben wird. Sich lieben zu lassen, das heißt auch, sich Gutes erweisen zu lassen, Bestätigung entgegenzunehmen, Anerkennung, Ehre, Zuwendung und Freundlichkeit zu finden. Mit der Liebe, die uns Jesus erweist, ist ständig die zärtliche Aussage verbunden, dass wir ihm sehr wichtig sind und dass er uns gern hat. Er hat uns so sehr geliebt, dass er sein Leben für uns gelassen hat (Vers 13), weil wir seine Freunde sind, obwohl wir selbst, zum Zeitpunkt, als Jesus für uns gestorben ist, noch in einer feindseligen Haltung ihm gegenüber waren.
Liebe ist totale Bejahung, Liebe, die wir von jemand, der uns wichtig und begehrenswert ist, annehmen, baut auf, tut wohl und erfreut. Darüber hinaus ist Liebe die Vermittlung von Gutem. Wenn ich jemand mit Liebe erfreuen will, dann drängt es mich, ihm zu schenken, was ihm nützlich und begehrenswert erscheint.
4.1 Die neue Qualität der Gebote im Neuen Testament
Die Beschreibung der Auswirkung der Liebe, wie wir sie eben untersucht haben, finden wir in der soeben zitierten Schriftstelle aus Johannes 15,11. Aber bevor wir darauf eingehen, müssen wir noch die Botschaft des Verses 10 entgegennehmen.
Johannes 15,10
Wenn ihr meine Gebote haltet, so werdet ihr in meiner Liebe bleiben, wie ich die Gebote meines Vaters gehalten habe und in seiner Liebe bleibe.
Wenn wir sie nicht ganz gewissenhaft untersuchen, laufen wir Gefahr, die Ausführungen Jesu in diesem Vers völlig zu verkennen. Jesus sagt, dass wir seine Gebote halten sollen und dadurch in seiner Liebe bleiben, gleichwie er die Gebote seines Vaters hält und in seiner Liebe bleibt. Diese Gedanken können so verstanden werden, dass wir erst einmal unsere Vorleistungen in Gestalt des Gehorsams gegenüber seinen Geboten bringen müssen, um dann anschließend seine Liebe empfangen zu können.
Wenn Liebe bedingt ist, etwa durch unseren vorweg erklärten Gehorsam, durch unsere sittliche Leistung, unser moralisches Verhalten oder unseren Verzicht, dann wäre sie eine erkaufte Liebe, die kraft dieses Umstandes augenblicklich keine Liebe mehr ist.
Es ist sehr wichtig, sich diese Gedanken zu vergegenwärtigen, denn sie haben nicht nur einen letzten philosophischen Hintergrund, den zu kennen ganz vorteilhaft ist. Hier geht es um mehr, um sehr konkrete Erfahrungen. Solange nämlich die sittlichen Gebote Gottes an uns gerichtet sind, die uns sagen, dass wir dies und jenes zu tun und zu lassen haben, und zwar aus unserer eigenen moralischen Kraft, sind wir nicht liebesfähig! Wer im Gesetz oder auch nur in der Gesetzlichkeit steckt – und es gibt sehr wohl eine neutestamentliche Variante der Gesetzlichkeit –, kann weder Liebe empfangen noch geben.
So brauchen wir dringend ein neues Verständnis der Gebote Jesu, die ganz anders sind, als die Gebote im Alten Testament. Es besteht wirklich die dringende Notwendigkeit, die Gebote Jesu neu auszulegen, damit wir nicht doch auf verborgenen Wegen zu alttestamentlichen Erfahrungen und Täuschungen zurückkehren.
Der entscheidende Gesichtspunkt, der uns zu dieser Forderung zwingt, ist die bereits festgestellte Tatsache, dass eine Liebe, die durch sittliche Vorleistungen erkauft werden muss, keine Liebe ist.
Wie entkommen wir nun diesem Konflikt zwischen Geboten und Liebe? Ganz einfach dadurch, dass wir die neue Natur der Gebote Jesu erkennen. Sie sind nämlich Liebesempfangsgebote, gleichsam Speiseannahmegebote. Sie sind insofern Gebote, als sie Appelle an uns darstellen, uns der Liebe Gottes auszusetzen und sie entgegenzunehmen. Das ist in einer Weise auch eine Leistung oder besser gesagt, ein Fleißschritt oder eine Empfangshandlung.
Der Herr fordert uns auf, an seinem reich gedeckten Tisch Platz zu nehmen. (Das Bild wird besonders liebevoll im Psalm 23 entwickelt.) Uns wird voll eingeschenkt und phantastische Speisen werden uns vorgelegt, während die Feinde um uns herum weiter toben und lärmen, ohne uns offensichtlich etwas anhaben zu können. Aber so großartig das Angebot auch ist, zulangen müssen wir. Die Hand in die Schüssel tun, das ist unsere Aufgabe. Das Glas zu ergreifen, um uns den Wein zuzuführen, das obliegt wirklich uns. Wir müssen zulangen, wir müssen die Gabel zum Munde führen und wir müssen schlucken.
Ich weiß, das klingt trivial, aber genau das ist das Problem, unter dem die meisten von uns leiden. Wir haben erhebliche Mühe, an dieser Stelle Fleiß zu zeigen.
Sprüche 26,15 (Luther)
Der Faule steckt seine Hand in die Schüssel, und es wird ihm sauer, dass er sie zum Munde bringt.
So deftig diese Sprache auch klingen mag, sie beschreibt genau unser Fehlverhalten. Wenn es darauf ankommt, uns in produktiver Leistung zu beweisen, dann sind wir zu Höchstleistungen imstande. Wenn wir aber Geschenke, göttliche Speisen, entgegennehmen sollen, dann haben wir auf einmal Mühe, die Hand zum Munde zu führen.
Ich sehe in den neutestamentlichen Geboten die Aufforderung, die »Leistung« zu erbringen, dass wir göttliche Geschenke entgegennehmen, um sie dann zu genießen. Hier einige Empfangsgebote:
Sich lieben lassen, dem Herrn vertrauen und ihm glauben, was heißt, sich ihm überlassen, sich freuen, auch das ist ein Gebot, seinen Frieden entgegennehmen, Zeit mit ihm verbringen, Gemeinschaft mit ihm pflegen und sich dabei total beschenken und durch Hören seiner Liebeserklärungen erquicken lassen, Gnade nehmen, sich nicht sorgen und sich nicht fürchten und dann eben seine Liebe entgegennehmen.
Allerdings heißt es im Neuen Testament dann auch, dass wir schließlich ebenfalls lieben sollen, zuerst ihn, den Herrn, dann unsere Brüder und alle Menschen. Aber auch das ist kein Leistungsgebot, sondern nur die Aufforderung an uns, nachdem wir voll von seiner Liebe geworden sind, die Beglückung einfach nicht mehr allein für uns behalten zu wollen, sondern sie weiterzureichen, was zur Verstärkung der eigenen Lust führt. Gewährte Liebe löst dieselbe Wirkung wie empfangene Liebe aus: Sie steigert die Freude, sie bereichert und vermehrt den inneren Genuss, denn wir geben sowieso nichts Eigenes weiter.
Ich bleibe mit Nachdruck dabei: Die neutestamentlichen Gebote sind Empfangsgebote. Die Aufforderung, anderen Gutes zu erweisen, bedeutet lediglich, anderen empfangene Gnade zukommen zu lassen, damit wir dann selbst noch mehr Gnade empfangen. Sobald wir uns von diesem Grundverständnis der Worte und Gebote Jesu abwenden, kehrt die Gesetzlichkeit bei uns ein.
4.2 Aus Liebe wird Freude
Johannes 15,11
Dies habe ich zu euch geredet, damit meine Freude in euch sei und eure Freude völlig werde.
Es ist die Aufforderung, seine Liebe entgegenzunehmen und fortwährend in seiner Liebe zu bleiben. Das bedeutet auch, in Fleißarbeit auf die vielen Hinweise seiner Liebe, Angebote, Beglückungen und Segnungen zu achten und sie zu empfangen. Das alles wird uns zuteil, damit seine Freude in uns bleibe.
Aus der Liebe, die wir empfangen, soll sich Freude entwickeln. Das ist nun genau das, was uns die neue Salbung reichlich beschert. Das Volk Gottes fängt an, sich zu freuen, weil es bewusst und auch unbewusst die Bejahung, Bestätigung und Liebe des Herrn durch den Heiligen Geist spürt. Die Tatsache, dass wir es gelernt haben, uns an den Heiligen Geist zu wenden, um über ihn die Liebe des Vaters und des Sohnes zu empfangen, ist offenbar der Grund dafür, dass wir heute die Liebe Gottes um so viel deutlicher und stärker erleben. Wir begehen nicht mehr ständig die unmerkliche Sünde, den Heiligen Geist zu umgehen und auszuklammern.
Es gibt einen doppelten Aspekt, was nun die in Aussicht gestellte und jetzt von vielen Christen wirklich erlebte Freude anbelangt. Jesus unterscheidet ausdrücklich zwischen seiner Freude und unserer Freude. Seine Freude kommt auf dem Weg der Erfahrung seiner Liebe zu uns und bereitet dann die Bahn für unsere Freude.