Kernbeißer und Kreuzschnäbel. Rainer Kloubert. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rainer Kloubert
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783961600502
Скачать книгу

      Nüdelchen her. Als er sie aufgegessen hatte, fischte er das Gebiss aus dem Glas, setzte es wieder an seine alte Stelle – biatsch –, steckte eine Zigarette dazu, zündete sie an, inhalierte den Rauch, stülpte den Mund fischmaulartig auf, stieß den Rauch aus, um ihn mit der Nase – n nnn ffffffff – wieder einzufangen.

      *

      Ich hielt die ganze Zeit nach einem Lehrer Ausschau, der mir Chinesisch beibringen konnte; aber es musste das Chinesisch sein, wie man es in Peking sprach: ein nasaler Singsang wie der von Hans Albers auf den Schallplatten meines Großvaters: »Komm doch, liebe Kleine, sei die meine, sag nicht nein …«: ein Tanz von Tönen.

      Der Zufall brachte mich mit einem Exilchinesen aus Peking zusammen, der sich in Taipeh mit Wahrsagungen durchs Leben schlug. (Wahrsagungen sind umgekehrte Erinnerungen.) Wo er mir über den Weg gelaufen war – oder ich ihm? Es war im Astoria Café (明星咖啡馆) in Taipeh gewesen, auf der Wuchang Road (武昌街) gegenüber dem Tem­pel des Stadtgottes (台北霞海城隍庙): »A famous café where writers and artists meet for relaxation and prolonged discussion of art and life.«

      Der Wahrsager, der mich dort schon erwartete, ohne dass ich es wusste – ein kinnloser Mann mit einem knochigen Gesicht –, schlief auf dem einzigen Sofa des Hauses vor sich hin. Seine Haare waren straff nach hinten gekämmt und glänzten wie Lackschuhe.

30

      Auf dem Tisch vor ihm lag ein Schulheft, ein dicker Kugelschreiber steckte in der Brusttasche seiner Jacke. Links und rechts von ihm spielten zwei Frauen, die wie Zwillingsschwestern aussahen, Karten, ohne sich um den Schläfer zu kümmern, der die Hände so vor dem Bauch aufeinandergelegt hatte, als steckten Karten darin, die er vergessen hatte auszuspielen, als ihn der Schlaf – oder der Tod? – übermannte, auf Ewigkeit dazu verdammt, zwischen zwei kartenspielenden Frauen zu sitzen: Angels of Death. Oder war er selber der Tod? Ich hatte ihn immer gerne kennenlernen wollen.

      Ein Monteur betrat das Restaurant, um einen neuen Sicherungskasten für die Airconditioning – oooomemememeppp – einzubauen. Bohrer, Hammer und andere Werkzeuge waren in einem Pappkarton verstaut, den er mit den Füßen vor sich herschob, langsam und gemächlich, einmal links und dann wieder rechts

      shit shit shit shit shit

      shot shot shot shot shot

      Er schaltete den scheppernden Kasten aus

      omememememememe

      der langsam zur Ruhe kam

      e e eme e e e e …

      und machte sich an den Sicherungen zu schaffen. Eine Frau drückte von außen gegen die scheppernde Eingangstür und wanderte mit einem Bauchladen von Tisch zu Tisch. Der Tod hob müde den Kopf, erblickte mich, stand auf und hinkte mit dem Schulheft in der Hand zu mir:

      »De fu’tur«, sagte er in einem Mischmasch aus Englisch und Deutsch, »fo’ you.«

      Ohne eine Antwort abzuwarten, setzte er sich zu mir und überreichte mir eine rosa Visitenkarte, die er aus einer Packung »Long ­Life«-Zigaretten herausgefischt hatte. Er schlug das Heft auf und zeigte auf die Sätze:

      Das selbstlose Allselbst

      Ist sich selbst genug

      (The selfless Allself

      is sickself Genough)

      Ein polyglotter und philosophischer Wahrsager? Er schaute mich lange an – ein Arzt der einen Kranken betrachtet, hätte es nicht sorgfältiger tun können – und schrieb rasch ein paar Worte in das Heft:

      Long Life

      Hundred Years

      Wealth

      Ten Million

      Die Frau mit dem Bauchladen blieb vor mir stehen:

      Happy Family

      Marriage

      Love

      Girl Friend

      Erwartungsvoll schaute er mich an.

      »Hund’et dollah.« Die Ärmel seines viel zu langen Mantels waren hochgekrempelt. Er hielt die Hand auf, steckte den Geldschein ein, den ich ihm gab, und zog eine Broschüre aus seiner Tasche. Auf dem Umschlag war ein Rheindampfer abgebildet, an dessen Reling er in seinem viel zu weitem Mantel stand.

      »Le’ein le’eise«, sagte er leise auf Deutsch, »Lolelei«, und überreichte es mir. (Woher wusste er, dass ich aus Deutschland kam? Ein Wahrsager, sagte ich mir, natürlich wusste er es! Wer, wenn nicht er?) Er stand auf und setzte sich wieder zu seinen beiden Frauen. Die rechte zog einen Rosenkranz aus der Tasche und ließ die schwarzen Perlen – Oooooomitooooofooo – wie die Reihen der »ooooo« durch die rotlackierten Finger gleiten. Der Wahrsager nickte mir freundlich zu.

      »She eve’y day«, rief er, zeigte auf die rechte Schwester und faltete die Hände zusammen. »P’lay Omitofo.«

      Das Telephon klingelte, er hinkte zur Theke und hob den Hörer an sein Ohr.

      »Lu?«, fragte er und schaute in die Runde. War das nicht mein chinesischer Name? Unsere Blicke trafen sich.

      »Lebt nicht mehr«, sagte er.

      Also so sah der Tod aus, dachte ich, als er auflegte und wieder auf mich zukam.

      War ich gestorben?

      Er schüttelte den Kopf, und wir kamen ins Gespräch.

      Wahrsager Wang (王算命) war der Spross einer alten Pekinger Apotheker-Familie, die am »Gemüsemarkt« (菜市场) ein großes Geschäft besessen hatte: das »Kranichjahr« (鹤年堂), so sein Name. Vor dem Krieg war er einige Jahre in Europa gewesen, hatte dort Englisch und Deutsch gelernt und sprach ein wunderschönes Peking-Chinesisch, wie es nur waschechte Pekinger von sich geben: rollende und gleichzeitig nasale Lautfolgen, eingebettet in einer Tonlage, die sich wie das Schnurren eines gestreichelten Katers anhörte. Hans Albers, wenn er Chinesisch gesprochen hätte.

      Er suchte eine Beschäftigung, ich einen Sprachlehrer. Wir vereinbarten ein Honorar und trafen uns von da an jeden Nachmittag für eine Stunde in einem Hinterzimmer des Astoria, wo er Klienten empfing und mit der Niederschrift einer Wahrsagelehre beschäftigt war: ein Almanach von tausend illustrierten Schlüsselszenen – Fahrt mit dem Motorrad, Hausbau, Reissaat etc. –, die über Begriffe und Zahlen miteinander kombiniert werden konnten und so Aussagen über zukünftige Ereignisse ermöglichten.

      Also ein Wahrsager und Apotheker, verwandte Berufe. Ich vertraute ihm das Rätsel meiner Anfälle an. »Dämonische Besessenheiten« (鬼魅邪狂), diagnostizierte er, zu den Symptomen gehörten Selbstvergessenheit (不识自), Gehwut (狂走) und Halluzinationen (幻觉). Ich nickte: ja, Halluzinationen, Trugbilder. Guter Rat sei jetzt teuer, sagte er und runzelte die Stirn. In Peking hätte er mir »Dämonen-­Austreibe-Pillen« (杀鬼丸) verschrieben, fuhr er fort, die Ingredienzen wären hier jedoch nicht zu bekommen, vor allem »Gu« (蠱) nicht, ein Insekt, das sich selbst erzeugt: man füllt ein Gefäß mit allem möglichen Kleingetier, verschließt es und öffnet es nach einem Jahr: »Gu« sei das Insekt, das nach Einverleibung aller anderen als einziges noch am Leben sei.

      Die Ursache der Anfälle? Möglicherweise ein Fuchsgeist (狐精), sagte er. Sei ich in Taiwan einer Frau begegnet, zu der ich mich rätselhaft hingezogen gefühlt hätte – »gar schöne Spiele spiel ich mit dir«?

      Ich überlegte. Ja, dachte ich, Spiele, eine Tante meiner chinesischen Frau, hatte mir welche beigebracht: Gevatterin Yin (尹妈妈).

      Auch sie war vom Festland nach Taiwan geflohen, von Kalgan (张家口), der Grenzstadt zur Mongolei, wo sie erst Mama-san eines Bordells gewesen war, dann Konkubine eines Warlords, der nach ein paar Monaten das Zeitliche gesegnet hatte. Seitdem galt sie als »Füchsin« (狐狸请), aus chinesischer Sicht keineswegs