Kernbeißer und Kreuzschnäbel. Rainer Kloubert. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rainer Kloubert
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783961600502
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Kreuzes«, bei dem eine sonore Männerstimme langsam und zum Mitschreiben die Namen vermisster Kinder durchgab: wann und wo zum letzten Mal gesehen, besondere Kennzeichen etc.: »sachdien­liche Hinweise erbeten an …« Manchmal stellte ich mir vor, ich sei einer von ihnen. Wie schön musste es sein, gesucht zu werden! Der Krieg war gerade erst vorbei, wir spielten Verstecken auf Trümmergrund­stücken. In ­China holte mich diese Vergangenheit wieder ein, genauer gesagt: in Tien­tsin, einer Hafenstadt aus der großen Zeit des westlichen Imperialismus. Ein Teil der Innenstadt war 1976, dem Todesjahr Mao Zedongs, bei einem Erdbeben verwüstet worden, dessen Epizentrum die nahegelegene Stadt Tangshan (唐山) gewesen war. Ganze Häuserreihen hatten sich wie nach einem Luftangriff einer Bomberarmada in Schutt und Asche verwandelt, andere, nur ein paar Meter entfernt, standen immer noch mehr oder weniger unversehrt da: Firmensitze, Kaufhäuser, Hotels, Theater, Kinos, Restaurants – nun heruntergekommene, von politischen Parolen bedeckte Baulichkeiten, aus denen quer wie Fahnen Sträucher und Bäume herauswuchsen.

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      Die Trampelpfade dazwischen waren erfüllt von geschäftiger Betriebsamkeit. Auf den Tischen der Teehäuser standen Käfige mit Singvögeln. Ich blieb verwundert stehen. In Tientsin begegnete man Käfigen auf Schritt und Tritt. War hier das Halten von Singvögeln nicht verboten? Ich wanderte durch die Ruinen der ehemals deutschen Niederlassung, ein Wandern über Stock und Stein, begleitet vom »ack ack ack« fetter Elstern und dem »scheck scheck scheck« zerzauster Krähen. Wie in meiner Kindheit führten Wege durch die Schuttberge, vorbei an fassadenlosen, aber sonst intakten Häusern. Die Pfade verzweigten und vereinigten sich an früheren Knotenpunkten, wo wieder Gar­küchen und Teebuden aufgemacht hatten, alte Leute hockten vor ihnen, auf den Tischen auch hier Vogelkäfige. Der Schutt war von Sträuchern überwuchert, an manchen Stellen führten Treppen nach unten, in dunkle Höhlen, die einmal Keller gewesen waren.

      Auf einem Treppenabsatz lag ein leuchtend rotes Blechauto. Ich hatte als kleines Kind ein solches Auto besessen, einen Zweisitzer mit Vierganggetriebe, Kupplung, Lenkung und Handbremse. Das Gehäuse war dunkelrot lackiert gewesen, die Ledersitze hellrot – damals mein kostbarster Besitz, ich träumte von ihm, wenn ich nicht damit spielte. Ich starrte auf das Auto, es sah so aus wie damals. Mein Auto, dachte ich, ich wollte es zurückhaben. Im gleichen Augenblick packte mich die Angst, mein Gedächtnis wieder zu verlieren. Oder hatte ich es schon verloren? Ich stieg die Stufen hinab – aus mir war wieder ein amoralischer kleiner Junge geworden. Ein modriger Geruch schlug mir entgegen, die Luft war mit einem Mal kühl, erst roch es brackig, dann süßlich nach Fäkalien. Der Nachbarschaftsabtritt: auf einem Pappschild stand das Zeichen für Frauen (女), daneben das für Männer (男). Ich bückte mich und hob das Auto auf. Auf dem Nummernschild stand der Name »Schuco«. Ich drehte des Auto um und las auf dem Chassis: Schefer-Prinz – Aachen – Holzgraben. Eine Halluzination? Ich schloss meine Augen. Als Kind hatte ich mir an dem Schaufenster die Nase plattgedrückt. Das am Dom liegende Geschäft war im Krieg kaum beschädigt worden, eine heile Kinderwelt inmitten von Trümmern. Ich zählte bis drei und öffnete meine Augen.

      Das Schildchen war verschwunden. Ich blickte mich um. Kinder waren nirgendwo zu sehen. Was hatten wir damals in den Trümmern für Spiele gespielt? Wir hatten Krieg gespielt, was naheliegend war, Indianer im Wilden Westen, Räuber und Gendarm, hatten Jagd auf Spatzen gemacht und waren auf Schatzsuche gegangen. Was unterschied eigentlich die beiden zerstörten Welten voneinander, überlegte ich, die in meiner Heimatstadt und die nun hier in Tientsin? Eine Zerstörung von oben und eine von unten, die eine von Menschen-, die andere von Gottes Hand. Noch etwas anderes fiel mir ein, als ich wieder vor einem Vogelkäfig stand, eine mögliche Erklärung, warum die singenden und spielenden Hausgenossen trotz des Bannfluchs in Tientsin geduldet wurden: Mit ihnen war ein Stück Leben in die Stadt zurückgekehrt.

      Wie Trümmergrundstücke waren auch Hörspiele Teil meiner Kindheit gewesen. Sonntags nach dem Mittagessen versammelten wir uns um den Radioapparat. Nach dem Zeitzeichen – fünf kurze Töne und dann ein langer Ton – war es endlich zwei Uhr, die Stunde, auf die wir schon ungeduldig gewartet hatten. Der Suchdienst war vergessen, ein anderer Kinderfunk begann: Des Kaisers Nachtigall. Ich lauschte hingegeben … Der lange Hall der Gongs, der unendlich weite Palast, chinesische Flötenklänge und wieder Gongs. Die Klänge verstummten, stattdessen ertönte der Gesang der Nachtigall, der so betörend war, dass dem Kaiser die Tränen kamen. Wieder erklangen Gongs. Der Oberhofmeister des Palastes (ein Eunuche) überbrachte ein Geschenk des japanischen Mikado: eine diamantenbesetzte künstliche Nachtigall, die noch süßer sang als die lebende. Als der Kaiser der lebenden Nachtigall nicht mehr zuhören mochte, verbannte der Oberhofmeister sie aus dem Palast. (Günther Lüders, den heute keiner mehr kennt, brachte mit seiner samtigen Stimme den Oberhofmeister zu Gehör.) Ein paar Monate vergingen. Erneut erklangen Gongschläge: Der Oberhofmeister, über die Jahre leicht vertrottelt, meldete dem Kaiser untertänig – man hörte die Verbeugungen förmlich –, dass sich die Rädchen und Zäpfchen im Inneren der künstlichen Nachtigall abgenutzt hätten und sie deshalb verstummt sei. Der Kaiser erkrankte vor Gram an Herzeleid, kalt und bleich lag er in seinem prächtigen Bett, der Tod kam und setzte sich zu ihm. Als er seine knöcherne Hand nach dem Kaiser ausstreckte, ertönte auf einmal vom Fenster her der Gesang der verbannten Nachtigall: Sie war gekommen, um den Kaiser zu trösten; so überirdisch sang sie, dass die Krankheit wich und der Tod sich geschlagen gab. Von da fand sie sich jeden Abend beim Kaiser ein, nicht nur, um ihm vorzusingen, sondern auch, um ihm Kunde zu bringen von dem, was sich tagsüber in seinem Reich zugetragen hatte und ihm bis dahin verborgen geblieben war.

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      So viel zu Singvögeln, nun zu den Spielvögeln (玩意儿鸟). Sie standen weniger hoch im Kurs. Zu ihnen zählten in erster Linie Erlenzeisige (黄雀), Spatzen (麻雀), Kreuzschnäbel (交嘴) und Kernbeißer (蜡嘴雀). Sie apportierten beispielsweise Bällchen, zogen Geldscheine aus der Tasche, hievten Eimerchen hoch etc. Auch Spielvögel waren gewöhnlich Männchen. Ausnahmen bestätigten die Regel: Auf »Schächtelchen oder Köfferchen zu öffnen« (开箱), Sächelchen herauszupicken und zu ihren Besitzern zu tragen – eine Domäne von Kreuzschnäbeln (交嘴) – verstanden sich die Weibchen sogar noch besser (auch menschlichen Weibchen soll ja das Kramen von Sächelchen in Handtäschchen in die Wiege gelegt sein).

      (Die Schnäbel der Männchen kreuzten sich von links nach rechts, hieß es übrigens, die der Weibchen von rechts nach links.)

      Ziervögel, um zu ihnen zu kommen, waren farbenfrohe, in den reichen Höfen der Stadt lebende »Südvögel« (南鸟), Vögel aus subtropischen oder tropischen Gefilden, auch hier meistens Männchen, sie waren bunter, schöner und alerter: Yin und Yang (阴阳), das alte Lied. Vielfach wurden sie in Pärchen gehalten. James Thurber hat über sie – »Unzertrennliche« oder lovebirds (Agapornis) – eine bezaubernde Geschichte geschrieben: »My Senegalese Birds and Siamese Cats«: Freigelassen flog das Männchen, so seine Beobachtung, voll stummer Verzweiflung immer wieder um den Käfig mit dem Weibchen. Und das Weibchen? Von einem reziproken Herzeleid konnte keine Rede sein. Im Gegenteil: Es lebte (weshalb Thurber es für das Männchen hielt) nach dem Tod des Männchens (von dem Thurber glaubte, es sei ein Weibchen) erst richtig auf und begann zu frohlocken und laut zu jubilieren. So weit Thurber. Aber wer weiß, vielleicht war es auch das Männchen, das nach dem Tod seines Weibchens zu jauchzen begann. Oder Thurber hatte versehentlich zwei Männchen (oder Weibchen) gekauft.

      Nicht zu verwechseln mit diesen afrikanischen oder Thurber’schen lovebirds waren die chinesischen »Unzertrennlichen« (相思鸟, Leiothrix lutea, Sonnenvögel oder China-Nachtigallen), die ebenfalls immer nur als Pärchen gehalten wurden. Stirn, Kopf und Nacken waren olivgrün, das Kinn gelb, die Brust orangefarben, der Bauch grüngelb. Der Farbe ihrer Schnäbel wegen wurden sie auch »Rotschnäbelchen« (红嘴儿) genannt.

      Wichtig beim Kauf, um nicht wie James Thurber womöglich mit zwei Männchen bzw. Weibchen dazustehen: Wie konnte man Männchen und Weibchen auseinanderhalten?

      Sämtliche Farben waren beim Weibchen stumpfer und glanzloser, besonders das rötliche Gelb der Brust. Die Schnäbel hatten beim Männchen eine karmesin-,