Kernbeißer und Kreuzschnäbel. Rainer Kloubert. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rainer Kloubert
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783961600502
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auf einem rotweiß gestreiften Fässchen; eine zierliche Seiltänzerin im Reifrock mit Schirmchen; ein singender ­Brummkreisel, eine Eisenbahn von Märklin, ein Zopfchinese aus Blech mit einer Schub­karre und einem Schlüssel zum Aufziehen; ein Anker-­Steinbaukasten mit roten, blauen und gelben Bauklötzen, aus denen sich Brücken bauen ließ, die ich dann wieder zum Einsturz brachte. (Welcher Klotz würde, wenn man ihn wegnahm, das bewirken?) Die Verkündigung des Abbruchs war Sache von Luzifer: ein roter Flaschenteufel, der in einer wassergefüllten und mit einem Gummipfropfen verschlossenen Glasröhre auf und ab schwamm: Drückte man auf den Pfropfen, sank er nach unten; ließ man los, stieg er wieder hoch; tippte man auf ihn, begann er zu tanzen: das Zeichen zum Abbruch: »London Bridge is falling down, falling down, falling down«, sang Lorenz Lorenz Lorenz, wenn ich ihm das Schauspiel vorführte. Hinterher gab es zur Abwechslung Pflaumeneis.

      In einem Regal lag ein Album mit exotischen Briefmarken, dreieckige aus Dschibuti mit Kamelmotiven. Und auf der nächsten Seite chinesische mit der Aufschrift: EXPED. SCIENT. (zu Ehren einer großen Expedition Sven Hedins in China, erzählte Lorenz Lorenz Lorenz).

      Daneben und darüber lagen Stöße von Abenteuerromanen: Karl May, Friedrich Gerstäcker, James Fenimore Cooper, Daniel Defoe, Rudyard Kipling, Frederick Marryat (»Sigismund Rüstig«) Johann David Wyss (»Der Schweizerische Robinson«), und wie sie sonst noch hießen, unter ihnen ein zerlesener gelber Leinenband von Georg von der Gabelentz: »Chinesische Grammatik«, mit dem geheimnisvollen Zusatz: »Mit Ausschluss des niederen Stils und der heutigen Umgangssprache.«

      Gab es nicht nur eine chinesische Sprache, hatte ich mich gefragt, sondern mehrere?

      Die Schränke an den Wänden öffneten sich nur, wenn man gleichzeitig an beiden Türflügeln zog, sie taten es seufzend und widerstrebend: In ihnen hingen Kleider, die wie alte Tanten einen stechenden Geruch nach Kampfer und Mottenkugeln von sich gaben. Eine Schublade war voll von Schattenrissen, gepressten (immer noch duftenden) Blumensträußchen, Taschenkalendern der Junkers-Flugzeugwerke und Bündeln von braunen Geldscheinen aus der Inflation; in einer anderen Schublade lagen Brettspiele: Mensch-ärgere-dich-nicht, Halma, Dame, Mühle und das Würfelspiel »Durch die Wüste Gobi«.

      Auf dem Deckel der Schachtel war inmitten weiter Sanddünen ein lamaistisches Kloster abgebildet, davor eine Karawane mit Kamelen, auf denen bewaffnete Europäer saßen. Ein Rudel von Wölfen folgte ihnen, einer der Europäer hatte sein Gewehr auf sie gerichtet. Im Vordergrund stand vor einer Jurte ein Mongole, der die Hände zu einem Willkommensgruß erhoben hatte. In der Schachtel lag eine Karte der Wüste Gobi, sie ähnelte derjenigen des »Parkes zu den Duftenden Bergen«. Anstatt der Pagoden, Pavillons, Tempel, Türme, Wandelgänge, Teiche und Geistermauern waren Pfade, Sanddünen, Karawanen, Lamas, Räuber und Wölfe abgebildet. Die Regeln besagten: »Die Spieler werfen der Reihe nach den Würfel und gehen so viele Felder vor, wie sie Punkte geworfen haben.« Bestimmte Felder waren Unglücksfelder (Sandstürme, verschüttete Brunnen, Räuber und Banditen, Wölfe etc., was Aussetzen, Zurückgehen oder Ausscheiden bedeutete; gelangte man auf Glücksfelder – Oasen, Jagdglück (wilde Esel), Regenfälle, siegreiche Gefechte mit Räubern etc. – durfte man ein paar Felder überspringen.

      Im Speicher spielte ich am liebsten: Durch die Luken fielen Sonnenstrahlen, in denen Myriaden von winzigen Partikeln tanzten; unter dem abgeschrägten Dach herrschte ein wohliges Halbdunkel, das Nicken, Picken, Gurren und Flattern der Tauben füllte den Speicher mit Leben.

      Alles in allem eine Welt von derselben Art, wie ich sie zwanzig Jahre später auf der »Straße der Acht Tugenden« (八德路) in Taipeh wiederfand: ein Bücher- und Trödelmarkt, auch hier mit Verschlägen, aus denen Tauben hinein- und hinausflogen, als brächten sie geheime Botschaften von Taiwan zum Festland und umgekehrt. (Wer weiß, vielleicht taten sie es wirklich.) Der Großvater meiner Frau, ein ehemals kleinerer Warlord der abgetanen Republik China, hatte mich dorthin mitgenommen.

15

      Es war mir, als wäre ich in den Speicher meiner Kindheit zurückgekehrt – nach China ausgewandert und dort ins Riesenhafte angewachsen. Berge von Plunder und Siebensachen – Möbel, Hausrat, Kleider, Vogelkäfige, Schirme, Uniformen, Rückenkratzer aus Elfenbein, Fotoalben, Schallplatten, längst vergessene Jahrbücher des Marionettenstaates Mandschukuo (满洲国) mit dem Konterfei seines Kaisers Pu Yi (溥仪), Künstlerpostkarten mit der chinesischen Anna May Wong (黄柳霜), zerfledderte Illustrierte (»Young Companion« (良友), »Readers Digest« auf Chinesisch, Romane, Spiele (Ma-Jongg, Domino etc.) und auch hier Bündel von Inflationsgeld (Bank of China, gefälscht, wie ich später herausfand: wer außer einem Chinesen fälscht selbst noch Inflationsgeld?). Überall Berge von Büchern: weiche, flexible und fadengeheftete Bücher ohne Interpunktionszeichen, die vom Leser erst hinzugedacht und dann mit einem Pinsel dazugesetzt werden mussten: kleine Kringel mit roter Tusche, an denen entlang der Leser wie ein Reisender in der Wüste von Wasserstelle zu Wasserstelle wandert. Dazwischen chinesischer Plunder: Bambuskoffer, Rollbilder, Vasen, Truhen, Schnitzereien, Kostüme der Pekingoper, Pantöffelchen für verkrüppelte Frauenfüße (ich roch verstohlen daran), blaue Roben, alte Münzen: mit einem Wort Habseligkeiten, die keinem mehr und daher jedem gehörten, Habseligkeiten an sich: Die Standbesitzer – unter ihnen ehemalige Untergebene des Generals (in jedem chinesischen Soldaten steckt ein Händler) – hatten es sich in der Hitze auf flachen Bambusliegen bequem gemacht, die Augen geschlossen, neben sich surrende Ventilatoren, die sich nach rechts drehten und dann nach einem energischen Ruck wieder nach links. Sie träumten wohl von ihren Kriegszügen, dachte ich. Nachts trugen sie Laternen, hatte Lorenz Lorenz Lorenz mir erzählt, damit ihre Feinde sie sehen konnten; bei Regen spannten sie Schirme auf. Die Seite gewann, deren Gongs am lautesten waren.

      Manchmal erwachte einer der Schläfer, gähnte, griff nach einem geriffeltem Maxwell-Glas, das mit grünem Tee gefüllt war, schraubte den Verschluss auf, trank einen Schluck, spuckte ein Teeblatt aus, schraubte das Glas zu, gähnte und lehnte sich zurück. Ein Jahrzehnt schien zwischen dem Auf- und Zuschrauben ins Land gegangen zu sein. Es roch nach Staub, Tabak, Papier und Taubendreck.

      Taubendreck?

      Ich überlegte: Ließ sich daraus nicht eine unsichtbare Geheimtinte herstellen – aus Taubendreck? Eine, die anfangs sichtbar war, später unsichtbar wurde, dann grün hervortrat, wenn man eine Flamme an das Papier hielt. Lorenz Lorenz Lorenz, der Pilot, Spion, Flugzeughersteller und Pflaumeneisanrührer hatte es mir erzählt. In dem Café, in das er eingeheiratet hatte, pflegte er bisweilen einen Mann mit Jägerhütchen zu treffen, den er Gehlen nannte, einfach »Gehlen«, ohne Vornamen und ohne »Herr«. Die beiden gingen in ein Nebenzimmer, wo amerikanische Besatzungsoffiziere sonst um viel Geld (grüne Dollarnoten) spielten, Pokerspiele, bei denen Lorenz Lorenz Lorenz sachverständig zuschaute, um hinterher dankend das Trinkgeld einzustecken, das die Spieler glaubten ihm schuldig zu sein. Die beiden tranken Feldafinger Bier – Gehlen steckte den Zeigefinger in den Schaum und sagte: »Fehlt a Finger.« Beide lachten, um dann über Russland zu sprechen. Oder war es China gewesen? Aus einem Schallplattenapparat erklangen Schlager von Hans Albers. »Komm doch, liebe Kleine, sei die meine, sag nicht nein …« Ich war von dem Apparat fasziniert gewesen: War eine Platte zu Ende, drehte sich der Tonarm zur Seite, machte eine Verbeugung, ruckartig wie die Ventilatoren auf der »Straße der Acht Tugenden«, wenn sie die Seite wechselten, eine neue Platte fiel nach unten, der Tonarm schwang zurück, hob und verbeugte sich wieder und setzte erneut auf: Zuerst erklang ein Kratzen, dann ein Rauschen, schließlich ein Schlager. In der »Straße der Acht Tugenden« waren es die von Zhou Xuan (周璇), der Nachtigall aus Shanghai, Weisen voller Sehnsucht, die schon ein paar Schritte weiter im Lärm der anderen Lautsprecher untergingen: Englischunterricht von Kassetten, auf denen die Golden Gate Bridge von San Francisco abgebildet war, nicht die Freiheitsstatue, die Einwanderern aus Europa vorbehalten war: neunhundert Sätze zum Nachsprechen für das ­TOEFL-Examen – die Fahrkarte ins ferne Amerika, das Land chinesischer Sehnsüchte.

      In einer Ecke des Speichers meines Großvaters war ich auf ein Bündel von Briefen und Postkarten aus China gestoßen, die von meinem Großonkel Paulchen stammten. Auch er hatte einen Teil seines Lebens in China verbracht – kein Wunder, die beiden waren eineiige Zwillinge gewesen. Zuerst war er in Peking, wo er Chinesisch