Kernbeißer und Kreuzschnäbel. Rainer Kloubert. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rainer Kloubert
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783961600502
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Wegesrand stand ein Pavillon, von dessen Säulen die rote Farbe abblätterte; das braune Leinwandgewebe, auf das die Farbe aufgetragen worden war – eine traditionelle Mischung aus Schweineblut und Klebemitteln –, kam darunter zum Vorschein. Ein Mann und eine Frau saßen jeder für sich zwischen zwei Säulen, beide starrten schweigend in die Landschaft, mit dem Rücken zu mir wie auf einem Gemälde von Caspar David Friedrich: Wanderung in den Westbergen. Ich setzte mich dazu, um dem Lied weiter zu lauschen, irgendwo hatte ich es schon einmal gehört. Die Säulen waren übersät mit Graffiti, die Rote Garden mit Schraubenziehern eingekratzt hatten. Es waren die von Mao Zedong eingeführten verkürzten Schriftzeichen – die langen waren für Graffiti zu kompliziert.

      Es stank zum Himmel, ich senkte meinen Blick: Fäkalienhaufen, einer neben dem anderen, dicke Fliegen schwirrten darüber, der Boden war bedeckt mit weißen Papierknäueln.

      Das Lied kam langsam die Kurve hinunter: »Dort in der weiten, weiten Ferne …« Ich blieb sitzen und summte die Melodie mit, jeder von uns dreien blickte gedankenversunken in eine andere Himmelsrichtung: »Dort in der weiten, weiten Ferne …«, das Lied näherte sich und wurde lauter, »wo ein Mädchen auf mich wartet …«

      Ich stand auf und setzte meinen Spaziergang fort. Das Volkslied wurde wieder leiser und verstummte, an seine Stelle traten andere Klänge. Koloraturen der Pekingoper, immer wieder dieselben, so als würde jemand »solfeggieren« (唱名法, sich warm singen). Ungewohnte Klänge, damals, am »Schwanz der Kulturrevolution« (文化大革命的尾巴), genauso aus der Zeit gefallen wie das Volkslied, das ich eben noch gehört hatte. Ich blieb stehen, lauschte und ging der Stimme nach. Plötzlich setzte sie aus, ein grunzendes Räuspern ertönte, ein klatschendes Spucken, ein erneutes Räuspern, dann wieder die Koloraturen. Ich ging schneller, die Stimme kam näher, eine biegsame, die Tonhöhe des Falsetts mühelos festhaltende Stimme. Der Pfad krümmte sich, und ich stand auf einmal vor der Ruine einer Kirche. In den Westbergen gab es eine ganze Reihe von ihnen, Hinterlassenschaften der vielen Missionare, die es einmal überall in China gegeben hatte. Nur die Wände standen noch, ein längliches Viereck, unterteilt in Mittelschiff, Vierung und Apsis. Neben dem Eingang lag, umgeben von Dattelbüschen, ein umgestürzter Grabstein mit einer lateinischen Inschrift, deren Buchstaben zum Teil verblichen und nicht mehr zu entziffern waren:

      A L M

      N E A M E T E L –

      Hollande

      LE 28 NO V E M B R T

      1877

      D E C E E A

      H E S H A N H U

      LE 26 A O U T 1047

      R. I. P.

      1047? Das Sterbejahr konnte es nicht sein, das war 1877 – aber wofür sonst stand die Zahl? Vielleicht sollte es 1847 heißen, das Geburtsjahr; er wäre dann nur dreißig Jahre alt geworden.

      Ich bückte mich unwillkürlich, und der Gesang brach ab, erneut das grunzende Räuspern, gefolgt von dem schleimigen Spucken, in dem Chinesen Meister sind. Neugierig machte ich ein paar Schritte auf das Gebäude zu. Ein Mann in einer blauen Schlossermontur mit langen abstehenden Armen, die wie die eines Gorillas aussahen, blickte mich an. Er war unrasiert und trug eine Brille mit dicken Gläsern. Seinen Oberkörper nach vorne biegend, ging er in die Knie, als wollte er im nächsten Augenblick zum Sprung auf mich ansetzen. Der Planet der Affen? Vor ihm stand auf einem steinernen Aufbau, der wohl einmal ein Altar gewesen war, der Vogelkäfig mit dem Rotkehlchen. Ein eleganter Käfig, der purpurviolett lackiert war und vorher einem chinesischen Pensionär aus der Kaiserzeit gehört haben mochte, einem Mandschu mit langem Zopf und flatternden Ärmeln.

      Nachdem wir uns eine Weile wie Erscheinungen angestarrt hatten, fragte ich ihn, ob er Sänger sei. Zögernd antwortete er:

      »Ich singe nur für mich allein, eigentlich bin ich ein Arbeiter.«

      »Ein Arbeiter – kein Sänger?«

      Der Mann nickte, und ich fragte, wie und von wem er das Singen gelernt habe.

      »Von Vögeln.« Er zeigte auf den Käfig mit dem Rotkehlchen. Dann, als wären wir immer noch in der Kulturrevolution, wieder die Beteuerung, dass er wirklich nur ein Arbeiter sei.

      »Wo, ein Arbeiter?«

      »In der Kompressorenfabrik Nr. 23.«

      Wohin die Kamele Kohle brachten. Ich machte wieder ihre mahlenden Kiefer nach, ohne dass ich mir dessen bewusst wurde. Seine Augen wanderten hin und her, er wirkte verstört. Um das Gespräch nicht abbrechen zu lassen, fragte ich ihn nach dem Vogel. Ein Rotkehlchen? Er wandte sich ab, ohne eine Antwort zu geben, griff nach dem Käfig, schritt den Berg hinauf, den gleichen Weg nehmend, den ich nach unten gekommen war. Ab und zu bückte er sich, pflückte eine wilde Dattel und steckte sie in den Mund.

      Ich ging weiter. Nach ein paar Schritten drehte ich mich um. Der Mann, der wie ein Gorilla mit Brille ausgesehen hatte, war wie vom Erdboden verschwunden.

      Aus dem ausgetrockneten Bachbett war eine Schlucht geworden, ich bahnte mir vorsichtig einen Weg. Die Gegend war früher ein kaiserlicher Jagdpark gewesen.

      Die Kaiser von China?

      In den Westbergen waren sie immer noch gegenwärtig, überall stieß man auf kaiserliche Wegmarken.

      Ein Stein an einer Wegbiegung war mit einer Inschrift und dem großen, viereckigen Siegel des Kaisers Qianlong (乾隆) versehen. Ich trat näher. Ein Gedicht auf den Sonnenaufgang, eingerahmt von Weisheiten, die das einfache Leben verherrlichten: »Zu großer Pomp in den Palästen der Herrscher, Armut und Elend in den Hütten des Volkes!« In seinem Leben hatte er vierzigtausend Gedichte geschrieben. Auch sein Nachfolger Mao Zedong hatte unablässig Gedichte produziert: Berge im Nebel, Sonnenaufgang, Wildgänse, fallende Blätter, Flussufer, eine Pagode, Abschied von einem Freund, eingestreute Sentenzen über Vergängliches und das Leben im Volk – und immer wieder Berge und das Wolkenmeer unter den Gipfeln, oft mit einer Widmung an einen Kampfgenossen. Freunde hatte er nicht.

      Nach ein paar Minuten holte mich das Volkslied wieder ein: »Dort in der weiten, weiten Ferne …«

      Auf einmal fiel mir ein, woher ich das Lied kannte. Ich hatte es oft in Taiwan gehört, als ich dort Chinesisch lernte. Wang Luobin (王洛宾, 1913–1996), der es populär gemacht hatte, war ein Sammler von alten Weisen, Liedermacher, Gitarrist und Sänger gewesen, ein chinesischer Bob Dylan, beide hatten das gleiche langgezogene, von Falten und Furchen gezeichnete Gesicht – Spuren von immer wieder gesungenen Liedern? Bei Wang Luobin eher Zeichen einer langen Lagerhaft. Ihm war vorgeworfen worden, zur Ermordung Mao Zedongs aufgerufen zu haben. Ein absurder Vorwurf in einer absurden Zeit. Einem seiner Lieder hatte er in der »Hundert-Blumen-Kampagne« (百花齐放) den Titel gegeben: Salaam (der moslemische Gruß) dem Vorsitzenden Mao (萨拉姆毛主席: »salamu Maozhuxi«): In Shanghai oder Kanton gesungen, klangen die Worte wie »Tötet den Vorsitzenden Mao« (杀了毛主席: »shale Maozhuxi«).

      Etwa um die gleiche Zeit, als in China die hundert Blumen blühten und der Liedermacher Wang Luobin der versuchten Ermordung Mao Zedongs bezichtigt wurde, ging ich in die Sexta des Kaiser-Karls-Gymnasiums in Aachen, wo ein Lehrer uns mit den Grundlagen der lateinischen Grammatik vertraut machte. Ein Koloss, unter dessen weicher Schale sich ein noch weicherer Kern verbarg. Spitzname: »Flohmatsch«. Er war es gewesen, wurde gemunkelt, der für die lokale Brauerei den Werbespruch verfasst hatte:

      Für ein lebenslanges Deputat, hieß es weiter, von Spöttern, die einen zweiten Vers dazu dichteten: »Oma wurde hundertzehn, � hatte Degraa nie gesehn.«

      Er war nicht nur Lateinlehrer, sondern auch ein Linguist (Fachgebiet Phonologie) und Mundartforscher (Öcher Platt, i. e. Ripuarisch). Den staunend lauschenden Sextanern erzählte er die Geschichte eines Kongresses, zu dem Vertreter der Vogelwelt eingeladen worden waren, um die Regeln eines geordneten Umgangs miteinander (Grammatik) festzulegen. Sperling, Schwalbe, Amsel, Fink und Star, auch