Kernbeißer und Kreuzschnäbel. Rainer Kloubert. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rainer Kloubert
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783961600502
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Japaner nicht besetzt hielten. Auf dem Schreibtisch seines Bruders, meines Großvaters Lorenz Lorenz Lorenz, stand eine Fotografie von ihm, eine Atelieraufnahme aus Macao. Auf der Rückseite hatte mein Großvater vermerkt: »Paulchen vor seinem Tod 1952«. Tod? Ich grübelte darüber nach – damals war mir der Tod ein Rätsel (eigentlich auch heute noch).

      Im Speicher entdeckte ich in einem exotischen Bambuskoffer ein weiches, blau eingebundenes und fadengeheftetes Buch: »Swinhoe’s Catalogue of the Birds of China«, 1871.

      Robert Swinhoe (1836–1877) hatte als Ornithologe einer Vielzahl chinesischer Vögel seinen Namen gegeben. Auf einem Bild, das ich mir später von ihm besorgte, sah er nicht wie ein Ornithologe aus, sondern wie ein Falschspieler (»worked the Mississippi«: Ich habe damals oft vor einem Spiegel mich genauso verwegen hinzustellen versucht).

      Er war in Kalkutta geboren und hatte in China als Dolmetscher und Konsul Karriere gemacht, sich aber weniger mit Handel und Wandel, als mit der chinesischen Vogelwelt befasst. Selbst während des Zweiten Opiumkriegs, an dem er als Dolmetscher teilnahm, hielt er auch im dicksten Kampfgetümmel nach Vögeln Ausschau: Sie waren die Hauptsache, alles andere nur ein lästiges Drumherum, das manchmal Sinn ergab, meistens aber nicht. Nebenher verfasste er einen Bericht über den Krieg: »The North China Campaign« – dessen Ablauf so verschlungen, unklar und unübersichtlich war, dass man ihn wie ein nasses Stück Seife in der Badewanne nur dann in die Finger bekam, wenn man gerade nicht danach griff. (Ich hatte ein Buch darüber geschrieben.) Der Krieg endete mit der Brandschatzung des Yuanmingyuan (圆明园), des alten Sommerpalasts in Peking. Swinhoe wurde zum Konsul in Taiwan ernannt und publizierte in nicht endender Folge ornithologische Artikel. Seinen Amtsgeschäften, die er schon vorher auf die leichte Schulter genommen hatte, kam er immer weniger nach; einmal desertierte er sogar von seinem Posten, der ständige Regen in Taiwan hatte ihn zur Verzweiflung getrieben. Er starb 1877 im frühen Alter von 41 Jahren an Syphilis, einer Krankheit, die keiner der vielen Amtsärzte, die ihn untersucht hatten, zu diagnostizieren in der Lage gewesen war.

      Ich schlug das Buch auf. Auf der ersten Seite standen in der winzigen, dünnen Zackenlinie meines Onkels – auch meine Handschrift sieht so aus – neben den zwei chinesischen Zeichen 百灵 (»Lerchen«, wie ich später lernte): »Können Lerchen sich erinnern?«

      Lerchen? Natürlich können sie das, hatte ich gedacht, wie auch alle anderen Vögel, Tauben und Zugvögel, was für eine Frage! Wie fänden sie sonst den Weg zu ihren Nestern und Brutplätzen zurück – bei Zugvögeln waren es immerhin Tausende von Kilometern.

      Mir fiel eine Geschichte ein, die mir nicht aus dem Sinn gegangen war, weil ich an den Paradiesvogel gedacht hatte, den »Irrgast«, den Flohmatsch in der Sexta an die Tafel gemalt hatte. Auch die Geschichte hieß so: »Ein Irrgast« (damit war ein Vogel gemeint, so eine gelehrte Fußnote, der sein Gedächtnis verloren hatte und nicht mehr zurückfand). Ein »Großes Sturmtaucherweibchen« namens Ernestine war auf dem Weg zu ihrem Brutplatz auf der Nachtigalleninsel im Südatlantik vom Weg abgekommen und erschöpft auf einem Bananendampfer notgelandet, der Ernestine nach Montevideo mitgenommen hatte, von wo sie beim Versuch, den Rückweg zu finden, an Heimweh und Entkräftung zugrunde gegangen war.

      Ich blätterte weiter. Über die lateinischen Namen hatte Paulchen nicht nur chinesische Zeichen gesetzt (sie fehlten bei Swinhoe), sondern auch die genauen Umstände (Ort und Zeit) notiert, in denen er sie beobachtet hatte. Gelegentlich hatte er Swinhoe korrigiert, vor allem seine Wahl lateinischer Namen. Ich zeigte das Buch meinem Großvater. Sein Bruder Paulchen, erfuhr ich, hatte in Peking an einer Überarbeitung und Ergänzung des Swinhoe’schen Werkes gearbeitet; auch Swinhoe war lange in Macao gewesen.

      In der Ecke des Speichers stand ein lederbezogener Großvaterstuhl. Ich setzte mich hinein und blätterte in dem Vogelkatalog, dann in der gelben »Chinesischen Grammatik«. Jedes Zeichen sah wie ein Irrgarten aus, angelegt nach einem Plan, der sich mir nicht erschloss, so oft ich auch den Strichen mit meinem Zeigefinger nachging. Wie prägte man sie sich ein, wie behielt man sie? Eine Welt lag hinter ihnen, die mir verschlossen war. Es musste einen Schlüssel dafür geben. Mein Entschluss stand fest: Chinesisch zu lernen und in China nach Vögeln zu suchen. Ich schlug die »Birds of China« wieder auf.

      Können Lerchen sich erinnern? Was hatte er wohl damit gemeint? Ein Rätsel. Warum gerade Lerchen?

      Unter dem Sessel lag das verstaubte und zusammengerollte Plakat des Filmes »Macao«. Warum ausgerechnet hier – in einem hohenlohischen Speicher? Der Regisseur hatte meinem Onkel Paulchen – erfuhr ich von meinem Großvater – eine Rolle als Stuntman verschafft. In einer Szene hatte er am Steuer eines Automobils in einer rasanten Verfolgungsfahrt hart entlang des Kais zu kurven. Obwohl die Szene einige Male geprobt worden war, hielt er sich, als die Kamera zu laufen begann, erst zu jedermanns Verblüffung, dann zum blanken Entsetzen aller nicht an das Drehbuch, sondern steuerte direkt auf den Landungssteg zu, wo gerade von Hongkong kommend ein kleiner weißer Raddampfer mit zwei schmalen Schornsteinen festgemacht hatte. Der Wagen überschlug sich und landete im Wasser, wo er gluckernd versank. Mein Großvater machte den Satz über die Wellen und den Fall nach, mit seiner Hand – so wie er manchmal auch einen Flug beschrieb. Nach einer Weile stieg eine riesige Luftblase auf und platzte an der Oberfläche: blub … Ich starrte auf meinen Großvater. Paulchens Seele? Ob er es mit Absicht getan hatte, fragte ich ihn (ich kam mir dabei sehr erwachsen vor). Er schüttelte den Kopf. Aus unerklärlichen Ursachen habe sein Bruder immer wieder unter Halluzinationen gelitten, dabei oft sein Gedächtnis verloren und dann nicht mehr gewusst, wer und wo er gewesen sei.

      Ich wusste damals noch nicht, dass auch ich später von solchen Anfällen heimgesucht werden würde. (Das »Charles-Bonnet-Syndrom«, wie man mir heute weismachen will, an der beispielsweise auch der englische Historiker Trevor-Roper gelitten haben soll. Er wollte einmal in Paddington in einen gerade eingelaufenen und abfahrbereiten Zug einsteigen; dieser war jedoch nur in seiner Einbildung eingelaufen und wartete nur dort auf ihn. Trevor-Roper stürzte auf die leeren Gleise und verletzte sich schwer. Ursache war eine krankhafte Sehschwäche gewesen, die das Gehirn veranlasst hatte, Nervenzellen neu zu verschalten, was nicht ohne Halluzinationen abgegangen war. – Der kleine weiße Raddampfer meines Großonkels – auch eine Halluzination? Um auf mich zurückzukommen: Ich leide nicht an einer Sehschwäche. Die Diagnose erklärt zudem nicht den Verlust des Gedächtnisses.) Sie hatten sich nur Zeit gelassen, bis ich erwachsen geworden war, um dann über mich herzufallen, aus heiterem Himmel wie der Einsturz einer meiner Brücken aus ­Anker-Steinen, wenn ich einen Klotz wegnahm. Für einen kurzen Augenblick wird mir schwarz vor Augen, ein Singen wie von Zikaden erklingt in meinen Ohren, ein kaltes und gleichzeitig warmes Gefühl steigt in mir hoch, eine Aura des Außermirselbstseins, dann ist alles wieder so, wie es vorher war – nur dass ich nicht mehr weiß, wer und wo ich bin.

23

      Das erste Mal war es in Taipeh geschehen, wo ich mit dem Geld, das mir Lorenz Lorenz Lorenz hinterlassen hatte, Chinesisch lernte. Ich war eines Abends die Chung Shan North Road (中山北路) entlanggeschlendert, hatte »Cave’s Book­shop« betreten, dort einen Band der »Chinese Superstitions« des Jesuiten Henry Dore vom Regal genommen und in den Seiten geblättert und war auf die Abbildung einer Mutter gestoßen, die mit einem Jäckchen in der Hand nach der Seele ihres in Ohnmacht gefallenen Kindes rief.

      Als ich einen Kniff in die Seite machte – es war die Seite 473 –, hörte ich ein Singen in meinen Ohren, und ein heiß-­kaltes Gefühl stieg in mir hoch. Dann meinte ich, ins Bodenlose zu fallen, stürzte, nachdem ich hastig die »Superstitions« zurückgestellt hatte, nach draußen und wanderte dann ohne Gedächtnis im Schein der kalten Neonreklamen die Straße immer wieder hinauf und hinunter. Ich fühlte mich ausgestoßen – aber von wo? Von meinem Zuhause? Ich wusste beim besten Willen nicht mehr, wo mein Zuhause war. Nicht dass ich auf der Suche danach gewesen wäre, ich wusste nicht, dass ich überhaupt irgendwo zu Hause war. Es war meine Erinnerung, nach der ich suchte, aber selbst das war mir zu Beginn nicht klar gewesen, da ich auch nicht wusste, wer ich war.

      Es war eine lange Suche gewesen, bevor mir überhaupt bewusst wurde, dass ich etwas suchte. Einmal war ich vor einem Haus stehengeblieben, in dessen erstem Stock ich früher einmal gewohnt hatte: