Kernbeißer und Kreuzschnäbel. Rainer Kloubert. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rainer Kloubert
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783961600502
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auf dem Altar und pickte an dem »Kentucky Fried Chicken«, das eigentlich dem Stadtgott zugedacht war. Kerzen flackerten qualmend und blakend vor dem Altar. Darüber erhob sich dunkel wie die Nacht das schwarze Gebälk des Daches.

      Alles ist Rauch. Die ganze Welt ist Rauch.

      Aus dem Inneren des Tempels ertönte ein Gong:

      Verzeihung: Schall und Rauch.

      Pekinger Vögel (im Allgemeinen)

      Ein Sprung zurück in das alte Peking, als Paul und Paulchen dort gewesen waren.

      Vögel zu dressieren, ihnen zu lauschen, mit ihnen zu spielen oder sich an ihrem Anblick zu erfreuen, war damals einer der vier »Vernarrtheiten«, denen sich in Peking ein Mann von Welt, mochte er Geld haben oder nicht, traditionellerweise hinzugeben pflegte. Die Sitte war gegen Ende der Ming-Dynastie (明代, 1368–1644) aufgekommen und hatte in der Qing-Dynastie (清代, 1644–1911) immer mehr Anhänger gefunden – unter Kaisern, deren Namen selbst wie Rufe exotischer Vögel klangen: Qian (乾), Jia (嘉), Dao (道), Xian (咸), Tong (同), Guang (光), Xuan (宣). Die anderen drei Vernarrtheiten, oder besser: Lebenskünste (生活之术), waren Fische (鱼), Lautinsekten (虫) und Blumen (花) – Chrysanthemen in erster Linie, nicht Rosen wie im Westen. Kaum ein Pekinger, der nicht der einen oder anderen Passion verfallen wäre, nicht wenige sogar allen vieren. Diese Leidenschaft ging so weit, dass ein entfernter Verwandter der Kaiserfamilie, Züchter von Goldfischen und »Pu der Blaufisch« (蓝鱼溥) genannt, ein Mann, der immer geschniegelt und gebügelt daherkam, hohe Ämter, die ihm angetragen wurden, zurückwies – solche der vierten Pekinger Rang­stufe (四品京堂) –, weil er schon den Gedanken nicht ertragen konnte, auch nur für ein paar Stunden von seinen blauen Fischen getrennt zu sein: Sie waren von allen Goldfischen die empfindlichsten und dünnhäutigsten. Ihre Aufzucht war so schwierig, dass man sie in normalen Goldfischläden nur selten zu Gesicht bekam, selbst in professionellen Zuchtstätten wie die im »Tempel des Prosperierenden Glücks« (隆福寺) suchte man sie vergebens. Stimmte etwa das Wasser nicht – nicht weich genug, zu lange oder zu kurz besonnt –, änderte sich auf der Stelle ihre Farbe. Als nicht minder wertvoll angesehen wurden solche mit »Wollknäueln« (绒球) über den Augen oder auch die »Elsterblauen« (喜鹊蓝) mit weißen Bäuchen, die sonst bei blauen Fischen tabu waren. Exzentrische Vorlieben waren bei Liebhabern von Vögeln ebenso die Regel wie bei denen für Goldfische. Als besondere Augenweiden galten beispielsweise die auf blauem Leib dunkelrot gesprenkelten »Tigerfell-Blauen« (虎皮蓝; auch die Terminologie von Goldfischen ähnelte der von Vögeln). »Pu der Blaufisch«, der in Peking mit zu den wenigen Züchtern zählte, die sich auf die Zucht von »Blauen« verstanden, zog nicht nur Fische auf, sondern auch Vögel, blaue, wie sich natürlich verstand – stadtbekannt war sein Japanschnäpper (石青, wörtlich: »Lasursteinchen«, Cyanoptila cyanomelana), ein ruhiger und friedlicher Geselle mit azurblauem Gefieder. »Lasursteinchen« waren an eine Diät von Heuschrecken gewöhnt und daher in Peking sehr selten, weil Heuschrecken die Pekinger kalte Jahreszeit nicht überlebten. Gleichwohl sah man Pu auch im Winter jeden Tag zur gleichen Zeit, geschniegelt und gebügelt, wie man es bei ihm gewohnt war, mit seinem himmelblauen »Lasursteinchen« einen Spaziergang machen. An den Käfig hatte er ein kleines Schildchen befestigt, auf dem trotz des leuchtenden Blaus des Vogels der Satz stand: »Einen grüneren gibt es nicht!« (此鸟无双名大绿). Jeder schüttelte den Kopf, nicht des Schildchens wegen: Farben – grün, blau, was auch immer – waren Ansichtssache. Nein, das Rätsel war, wie er im Winter an lebendige Heuschrecken kam – waren es etwa künstlich gezüchtete? Fragte man ihn, zeigte er nur auf das Schild: »Einen grüneren gibt es nicht!« Alle möglichen Theorien machten die Runde, bis sich eines Tages jemand verstohlen an seine Fersen heftete und herausfand, dass der verrückte Kerl seinen Vogel mit Küchenschaben (蟑螂) fütterte, von Europäern in verschimmelten Broten eingeschleppt.

      Pu, ein tragisches Opfer seiner Leidenschaft – er ertrank in einem Weiher beim Einfangen von Wasserflöhen (Futter für seine Blaufische) –, war beileibe nicht der Einzige, der seiner Liebhaberei wegen Ämter ausschlug. Der »Alte Gui« (桂老头), ein Angehöriger des Blauen Mongolischen Banners (正蓝旗蒙古人) mit einer Wohnstatt unter den Surenbäumen der »Kanonengefilde« (炮局) am Lamatempel (雍和宫), besaß ein Blaukehlchen (蓝点颏), das wie eine Lerche (百灵) zu singen verstand. Ein Wunder, von dem ganz Peking sprach: ein Blaukehlchen aus dem Blauen Mongolischen Banner. Ein Minister offerierte ihm erst die Pfründe eines »Banneradjutanten« (印务大章京), ein Amt der dritten Rangklasse, dann, als er es ausschlug, eines der zweiten. Der »Alte Gui« weigerte sich, den Vogel herzugeben. Der Minister, im irrigen Glauben, nackte Habgier sei der Grund, bot nun einen Haufen Geld an. Der »Alte Gui« schlug auch dieses Angebot in den Wind. Das traurige Ende: Zwei Wochen später starb das Blaukehlchen. Der untröstliche Besitzer – untröstlich nicht der entgangenen Pfründe oder des ausgebliebenen Geldes wegen – bestattete seinen toten Liebling, den er wochenlang in einem Kästchen bei sich getragen hatte, im Pagodenhof des tibetischen Bailin-Klosters (柏林寺) am »Stillen Tor« (安定门) im Nordosten der Stadt.

      Man unterschied in Peking zwischen Singvögeln, Ziervögeln, Spielvögeln und Beizvögeln.

      Von allen vier erwähnten Vogelkategorien rangierten Singvögel (鸣鸟) in der Wertschätzung der Pekinger am höchsten, es gab sie für jeden Geldbeutel. Bei ihnen – um gleich zu Beginn kundzutun, was sie von europäischen Stubenvögeln unterschied – begnügte man sich nicht damit, dem Gesang zu lauschen, den ihnen der liebe Gott in die Wiege gelegt hatte, sondern brachte ihnen Klänge, Lieder und Melodien bei, die ihnen nicht von Natur aus zu eigen waren. Erleichtert wurde deren Aneignung dadurch, dass die allermeisten Singvögel kabarettreife Imitationskünstler und Komiker waren, die nicht nur die Laute anderer Vögel, sondern auch Alltagsgeräusche perfekt nachzumachen verstanden – vorausgesetzt man hatte ein Gehör für sie.

      Die populärsten Singvögel waren Sumpfmeisen (红子), Kohlmeisen (黑子), Lerchen (白灵), Blaukehlchen (蓝点颏), Rotkehlchen (红点颏), Drosseln (画眉), Rohrspatzen (柞子) und Blauelstern (山喜鹊), aber auch »Dämmerhähne« (黎鸡儿) und Mainas (八哥 bzw. 鹩哥) hatten ihre Liebhaber. Schauspieler schätzten – sonst eher selten in Peking – Brillenvögel (粉眼, Zosteropidæ): schlanke Wesen mit dunkelgrünem Federkleid, einem spitzen und feinen Schnabel und weißen Augenringen, die sie wie Clowns der Pekingoper aussehen ließen. Männchen hatten einen purpurroten Streifen unterhalb der Rippen, in raren Fällen war er schmutzig weiß, ein Zeichen dafür, so der Wissensstand auf Vogelmärkten, dass er mit viel Gesangstalent gesegnet war: Für solche »Graurippchen« (青肋) wurden kleine Vermögen gezahlt. Mit seiner langgezogenen, dunklen, dann wieder hell zitternden Stimme konnte das Männchen das Blöken eines Esels und das Wiehern eines Pferdes (驴叫马唤) nachahmen. (Weibchen waren einsilbig und zugeknöpft.) Beliebt vor allem in Shanghai waren Japanbrillenvögel, auch »Stickereiäugelchen« genannt (绣眼, Zosterops japonicus), die einen fast hypnotischen Blick besaßen. Man pflegte sie in viereckigen Käfi­gen, die zur Vorderseite nicht ­verhüllt waren, morgens und abends spazierenzuführen. Ein wählerisches Völkchen, das vor allem auf Obst und in der Mauser auf frische Krabben versessen war und als besonders zutraulich und anhänglich galt: Freigelassen kehrten sie nach einer Weile von selbst zu ihrem Käfig zurück.

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      Und Nachtigallen – verewigt von Andersen in dem Märchen von des Kaisers Nachtigall? Fehlanzeige! Es gab sie nur im fernen, fernen Westen des Landes, nicht in Peking. Eine überraschende Entdeckung, ich war mir sicher gewesen, dass sie in Peking zu Hause wären, sie sangen ja dort dem Kaiser vor.

      Das Märchen hatte mein Interesse an China noch vertieft. Ich war sieben oder acht Jahre alt gewesen, als ich es im Radio gehört hatte, unvergesslich bis heute, auch das Drumherum hatte ich immer noch vor Augen. Damals waren Radios noch Röhrenapparate, vierfüßige barocke Möbel mit grünen magischen Augen und elfenbeinfarbenen Zelluloidtasten, die klemmten und nicht wieder hochspringen wollten, drückte man aus Versehen noch die zweite Taste