„Dieser Thorkild hat unsere Künste in den höchsten Tönen angepriesen, ohne dass ich glaube, dass er sie auch nur im entferntesten zu beurteilen vermochte“, fuhr Li fort. „Was wäre geschehen, wenn wir unwürdige Aufschneider gewesen wären?“
Mohammed lächelte breit. „Dich, deinen Vater und seinen Geselle hätte es den Kopf gekostet, so viel ist sicher.“
„Und Thorkild?“
„Gar nichts. Erstens ist er wahrscheinlich einer der wenigen, der sich so etwas gegenüber dem Statthalter erlauben könnte und zweitens sagt man den Nordmännern ja auch im Krieg eine besondere Todesverachtung nach.“
„Aber dies ist kein Krieg, sondern ein Handel gewesen.“
„Das ist für Männer wie Thorkild dasselbe“, sagte Mohammed.
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Die Tage vergingen und sammelten sich zu Wochen. Fünfmal an jedem Tag ruhte die Arbeit in der Werkstatt, denn diese Zeiten waren dem Gebet vorbehalten. Und genauso ruhte die Arbeit an jedem Freitag, wenn die Gläubigen zum Gebet in die Moschee gerufen wurden. Die Feiertage brachten und die Gebete gaben dem Leben der Stadt einen Rhythmus, von dem Li nie zuvor angenommen hätte, dass sie ihn als höchst angenehm empfinden würde. Der Gedanke, dass es Zeiten oder sogar ganze Tage gab, die allein Gott gewidmet werden durften und jeden gläubigen Menschen aus seinen Geschäften und Verpflichtungen herausriss, teilten Christen, Juden, Muslime und Manichäer, wie Li wusste. Für die Nestorianer in Xi Xia war nicht der Freitag, sondern der Sonntag heilig, aber der Grundsatz, dass sechs Tage der Arbeit einer dem höchsten Wesen gehörten, war offenbar bei allen Glaubenslehren des Westens verbreitet. Nur die Zeiten, die man den einzelnen Glaubenslehren zu folge für das Gebet zu reservieren hatte, war unterschiedlich.
Li konnte sich noch gut daran erinnern, wie ihr Vater sich darüber lustig gemacht hatte, welche Narren all jene doch waren, die einen ganzen Arbeitstag ausfallen ließen, nur um sich der Anrufung eines höchsten Wesens zu widmen.
Aber wenn in Samarkand das Leben fünfmal am Tag und einen Tag in der Woche nahezu zum erliegen kam, dann gab es für niemanden die Möglichkeit, sich von diesem Innehalten in der Geschäftigkeit auszuschließen. Wahrscheinlich bedurfte es schon des Befehls einer Gottheit, um jene andere große Macht in die Schranken zu weisen, die die Menschen ansonsten in ihrem Bann hielt: Das Streben nach Erwerb und Gewinn.
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Eines Tages kamen Wächter des Palastes, um Li mitzunehmen. Sie hatte gerade das Badehaus besucht, denn es war der Vorabend eines Feiertags. Die Wächter sagten ihr nicht den Grund, weshalb sie ihnen folgen sollte. Li fragte sich, ob man vielleicht mit ihrer Arbeit nicht zufrieden war oder Meister Mohammeds Aussage stimmte, wonach es Eiferer gab, die den Inhalt eines Buches womöglich auch denen anlasteten, die sich an seiner Herstellung beteiligt hatten – und mochte es auch nur darum gehen, dass sie das Papier geliefert hatten, auf dem die schändlichen Zeilen schließlich geschrieben worden waren.
Viele Gedanken gingen Li durch den Kopf, als sie durch die Gänge des Palastes geführt wurde.
Seit Thorkild Eisenbringer sie und ihre Begleiter an den Statthalter von Samarkand verkauft hatte, war sie nicht mehr im Inneren des Palastes gewesen. Und das war nun schon viele Wochen her.
Der Statthalter empfing sie diesmal in einem Raum, an dessen Wänden kostbare Wandteppiche hingen, deren symmetrische Muster an jene Prinzipien der Harmonie und des Gleichmaßes erinnerten, wie sie auch die Lehre das Dao vermittelte. Alles hatte seine Entsprechung, jede helle Farbe ihr dunkles Gegenteil und die Gleichmäßigkeit der Formen erinnerte an einen labyrinthischen Garten aus einem Blickwinkel, wie ihn vielleicht ein über die Hecken fliegender Vogel haben mochte.
Man konnte in diesen Ornamenten seinen Blick ewig wandern lassen und im immer gleichen doch stets etwas Neues finden. Li war war zutiefst beeindruckt. Wer immer diese Muster auf den Teppichen erschaffen hatte, war in ihren Augen ein ebenso großer Künstler wie jene inspirierten Geister, die für die Gestaltung der Mosaiken verantwortlich waren. Sinnbilder vollkommener Ordnung waren das in Lis Augen – und damit auch ein Gleichnis für die Welt in ihrer wahren Gestalt.
Prinz Ismail lächelte nachsichtig, denn ihm entging Lis Bewunderung für die Gestaltung des Raumes nicht, auch wenn er vielleicht nicht im Einzelnen hätte sagen können, worauf sie sich genau bezog.
„Du scheinst einen Sinn für Schönheit zu haben, wie er nicht oft vorkommt“, sagte er in seinem sehr klaren und auch für Li außerordentlich gut verständlichen Persisch.
„Eure Worte sind zu gütig, Herr“, erwiderte sie und neigte den Kopf.
Prinz Ismail saß auf einem Diwan. Vor ihm stand ein kunstvoll gefertigter Tisch, auf dem Dokumente lagen, die er zu unterzeichnen hatte. Kentikian stand neben ihm und legte ihm neue Dokumente vor, sobald die vorherigen den Namenszug des Statthalters trugen. Auf dem Diwan lag auch ein Buch. Inzwischen hatte Li die Bedeutung von einigen der arabischen Schriftzeichen erlernt, mit denen das Persische geschrieben wurde. Es war eine verhältnismäßig einfache Art der Schrift, die darauf abzielte, den Klang des gesprochenen Wortes wiederzugeben – und nicht die Bedeutung, wie es bei den Zehntausenden von Zeichen der Fall war, mit denen die Schreiber im Reich der Mitte vertraut sein mussten. Alle Schriften des Westens kamen mit einer vergleichsweise geringen Zahl von verschiedenen Zeichen aus. Das war ihr schon aufgefallen, als sie sich von Bruder Anastasius Griechisch und Latein hatte beibringen lassen. In der Regel schienen es bei keiner dieser Sprachen, vom Lateinischen bis zum Persischen mehr als zwei Dutzend Zeichen zu sein. Manchmal kamen sie in verschiedenen Variationen vor, aber selbst wenn man die als eigenständige Zeichen ansah, blieb ihre Anzahl lächerlich gering. Für einen Menschen mit einem durchschnittlich begabten Gedächtnis konnte es eigentlich keine Schwierigkeit sein, sie allesamt zu lernen, wie Li meinte.
Immerhin konnte sie inzwischen gut genug Persisch lesen, um zu erkennen, dass das Buch, das neben dem Statthalter auf dem Diwan lag, offenbar in arabischer Sprache verfasst war.
„Lass uns allein!“, wandte sich der Statthalter an Kentikian. Dieser verneigte sich.
„Wie Ihr wünscht, Herr.“
Der Hofschreiber zog sich zurück und nahm dabei auch einige Dokumente mit, die Prinz Ismail wohl noch zu unterzeichnen hatte.
„Komm näher“, sagte Prinz Ismail.
Zögernd folgte Li dieser Aufforderung. Der Statthalter nahm das mit einem kostbaren Ledereinband versehene Buch und gab es ihr. „Du wirst es nicht lesen können. Es ist in der Sprache des Propheten. Aber die Wasserzeichen in den Seiten wirst du erkennen, wenn du sie gegen das Licht hältst.“
Li schlug das Buch auf. Und als sie eine einzelne Seite gegen das durch ein hohes Fenster hereinscheinende Licht hielt, erkannte sie sofort ihr Wasserzeichen – jene Rose, die sie aus dem biegsamen Metall geformt hatte.
Zusammen mit der Schrift ergab sich ein Bild von überraschend vollkommen wirkender Harmonie.
„Das Buch ist eine edle Arbeit“, sagte sie. „Womit ich nicht das Papier loben will, sondern die Arbeit des Schreibers, der mit sicherem Strich geschrieben hat – und die des Buchbinders, dessen Knoten so winzig sind, dass sie sich fast überhaupt nicht in das Papier hinein drücken.“
„Du