Am dritten Tag, nach ihrer Ankunft in Samarkand, kamen bewaffnete Männer, die sich als Angehörige der Leibwache des Statthalters ausgaben, und forderten Li, Meister Wang und Gao auf, ihnen zu folgen. Weitergehende Erklärungen gaben sie nicht. Die Nordmänner, die bei der Karawanserei geblieben waren, um die Barren und die Gefangenen zu bewachen, schienen eingeweiht zu ein, aber mit ihnen war eine Verständigung unmöglich. Thorkild Larsson Eisenbringer selbst hatte Li seit ihrer Ankunft in Samarkand kaum noch gesehen. Bruder Anastasius wusste offenbar mehr.
„Er führt vermutlich Gespräche mit seinen einflussreichen Freunden hier in Samarkand“, meinte er. „Obwohl ich mir nicht sicher bin, ob der Eisenbringer da nicht etwas übertreibt.“
Die Bewaffneten nahmen die drei Papiermacher in ihre Mitte und führten sie einmal quer durch die Stadt. Die Menschen wichen vor ihnen aus. Die Bewohner schienen sie zu fürchten und bildeten bereitwillig eine Gasse, sobald sie sie bemerkten.
Scheue, verwunderte Blicke wurden den drei Angehörigen des Han-Volkes zugeworfen.
„Wohin führt Ihr uns?“, fragte Li zum wiederholten Mal in dem besten Persisch, das sie zustande bringen konnte. Bisher waren die Wächter stumm. Li hatte schon den Verdacht, dass es sich vielleicht um Söldner handelte, die selbst nicht viel Persisch sprachen.
Aber nun erbarmte sich einer von ihnen und löste die quälende Ungewissheit auf.
„Es geht zum Badehaus!“, sagte er.
Das Badehaus, das die Wächter meinten, schien Li ein Teil des Palastes zu sein. Dort angekommen wurde Li von ihrem Vater und Gao getrennt. Mehrere Frauen nahmen Li in Empfang und begannen damit, ihre zerlumpten und inzwischen vor Dreck starrenden Sachen auszuziehen. Anschließend wurde sie gebadet. Der Duft kostbarer Öle erfüllte den Raum. Li dachte an Jasmin, mit dem man sich auch in Xi Xia zu baden pflegte. Sie genoss das warme Wasser, in das sie ihren schlanken Körper tauchte. Die Tropfen perlten ihr über die Haut. Li seufzte leise. All die Strapazen der letzten Wochen fielen für einen Moment von ihr ab.
Zwei Frauen näherten sich dem Bad mit einem Krug. Sie begannen Lis blauschwarze Haare mit einer Essenz zu waschen, die angenehm roch. All dies ließ Li bereitwillig mit sich geschehen. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie sich das letzte Mal so wohl gefühlt hatte.
Nach dem Bad lagen Gewänder aus fließenden Stoffen für sie bereit. Eine Frau mit freundlichen Augen kümmerte sich um ihre Haare, die nun sauber, aber inzwischen ziemlich verfilzt waren. Oft genug war es während der langen Reise, die sie hinter sich hatte, nur möglich gewesen, sich notdürftig um ihre blauschwarzen, langen Haare zu kümmern. Aber die Frau mit den freundlichen Augen schien einiges davon zu verstehen. Am Ende war ihr Haar glattgekämmt und zu einem Zopf zusammengefasst.
Dann gab man ihr ein Tuch aus einem dunkelblauen, leichten Stoff, der zwar fließend war, aber von seiner Qualität noch weit von der Festigkeit von Seide entfernt. Li verstand im ersten Moment nicht, wozu dieses Tuch diente.
„Es gilt hier als unschicklich für eine Frau, ihr Haar offen zu zeigen“, sagte die Frau mit den freundlichen Augen. Sie sprach sehr langsam und auffällig deutlich akzentuiert. Offenbar glaubte sie, dass Li sie so besser verstehen konnte. „Dieses Tuch dient dazu, dein Haar zu verhüllen. Wenn man dich und die beiden anderen Papiermacher vor Prinz Ismail bringt, dann soll dabei sein Verstand nicht durch das unziemliche Auftreten einer Heidin verwirrt werden.“
„Wer ist dieser Prinz Ismail?“, fragte Li.
„Ein Neffe des Emirs von Buchara.“
„Ist das der Herrscher aus dem Geschlecht der Samaniden?“
„So ist es.“
„Ich habe von der Macht dieses Herrschergeschlechts gehört.“
„Es herrscht über die Länder Chorasan, Mawarannahr und Ferghana...“
„Ich habe gehört, dass der Emir seine Hauptstadt Buchara an den Schwarzen Herrscher verlor...“
„Das ist schon ein paar Jahre her – und Prinz Ismail gewann Buchara für seinen Onkel und sein Geschlecht zurück.“
„Wurde er deswegen mit der Würde eines Statthalters von Samarkand belohnt?“
„Deine Sprache ist barbarisch und doch scheust du dich nicht viele Fragen zu stellen, so als wolltest du alles an einem einzigen Tag erfahren.“
„Was ist falsch daran?“
„Es ist falsch daran, dass du die meisten dieser Dinge nicht zu wissen brauchst, denn du bist aus einem einzigen Grund her: Weil du eine Kunst verstehst, die in diesem Land sehr geschätzt wird und auf die sich anscheinend nur Menschen mit schmalen Augen und gelber Haut wirklich gut zu verstehen scheinen.“
„Unter meinen Sachen war ein Sieb aus Rosshaar, das mit dieser Kunst zu tun hat...“
Die Frau mit den freundlichen Augen rief eine der anderen Frauen des Badehauses herbei. Die Worte, die bei diesem überraschend barschen Ruf benutzt wurden, verstand Li nur zum Teil. Im nächsten Moment wurde Li das Sieb aus Rosshaar zurückgegeben.
„Was deine anderen Sachen angeht, so wird man sie am besten zu dem verarbeiten, was du herzustellen vermagst: Papier!“, meinte die Frau mit den freundlichen Augen dann und lächelte.
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Meister Wang und Gao waren ebenfalls gebadet worden und hatten frische Kleidung bekommen. Helle Gewänder und Umhänge, die von einem Gürtel zusammengehalten wurden und offenbar als vornehm genug angesehen wurden, um damit dem Statthalter von Samarkand gegenübertreten zu können.
Warum drei einfachen Papiermachern eine solche Ehre zuteil werden sollte, hatte Li noch nicht richtig verstanden und sie fragte sich, ob das vielleicht daran lag, dass sie einfach nur nicht in der Lage gewesen war, alles von dem, was die Frau mit den freundlichen Augen ihr berichtet hatte, richtig zu verstehen.
Oder hatte es vielleicht mit den besonderen Beziehungen zu tun, die der Nordmann Thorkild Eisenbringer zum Hof des Statthalters zu pflegen schien und dass ihnen deshalb diese bevorzugte Behandlung zuteil wurde?
Jedenfalls konnte es sich Li nicht vorstellen, dass in einer Stadt, in der angeblich jeden Tag ein Buch geschrieben wurde und in der es eigentlich von Gelehrten nur so wimmeln musste, die Kunst eines Papiermachers etwas so Besonderes und Außergewöhnliches sein konnte, dass allein dadurch schon ein solcher Empfang gerechtfertigt war.
Meister Wang schien die Verwunderung seiner Tochter zu teilen. „Ich frage mich, welche Wunderdinge man hier von uns erwartet“, raunte er Li zu. „Vielleicht sollen wir ein Papier erschaffen, das sich von allein beschriftet oder derlei unmögliche Dinge!“
„Man spricht immer davon, dass die Menschen des Westens sehr auf die Macht der Magie vertrauen“, gab Li zurück.
Meister Wang zuckte mit den Schultern. „Wahrscheinlich nicht mehr als andernorts auch“, meinte er. „Hauptsache, man vertraut nicht unserer Magie, denn auch wenn das, was wir tun, manchen wie Magie vorkommen mag, so hat unsere Kunst doch rein gar nichts mit der eines Magiers gemein!“
Auch ihrem Vater und Gao hatte man die Siebe gelassen. Li sah darin ein Zeichen der Hoffnung, denn es bedeutete schließlich, dass die Kunst des Papiermachens offenbar bekannt genug in Samarkand war, dass auch die Bediensteten eines Badehauses es gleich als Werkzeug eines Papiermachers erkannten.
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