Als Li zum ersten Mal die Türme und Kuppeln von Samarkand in der Ferne auftauchen sah, hielt sie einen Moment inne und glaubte im ersten Moment, ein Traumbild zu sehen - ein Trugbild, wie es von den Karawanenführern in der flirrenden Wüstenglut gefürchtet wurde. Die Muezzine riefen von den Minaretten zum Gebet und an den Toren stauten sich Händler und Kameltreiber, die Waren auf die Märkte der Stadt brachten.
Die Karawane war in den letzten Tagen nicht besonders schnell vorwärts gekommen, was vor allem daran lag, dass die Kamele völlig überlastet waren. Schwere Barren hatten sie anstatt leichter Seide zu tragen.
Die Trampeltiere, die Thorkild Larsson Eisenbringer ursprünglich benutzt hatte, um die Stahlbarren aus dem Süden Chorasans fortzubringen, waren ihm an einem Fieber eingegangen, wie Li inzwischen erfahren hatte. Vielleicht waren sie auch einfach nur nicht richtig behandelt worden oder es hatte an fachkundigen Treibern gemangelt. In einem langen Marsch waren Li und die anderen Gefangenen zusammen mit den erbeuteten Kamelen in ein Tal getrieben worden, in dem ein Teil von Thorkilds Männern mit den Barren gewartet hatten. Die wenigen Kamele und Maultiere, die sich bei diesem Lager befunden hatten, wären niemals in der Lage gewesen, auch nur die Hälfte der Barren zu laden und über eine längere Strecke zu tragen.
„Eine Stadt wie diese habe ich noch nie gesehen“, stieß Li hervor.
Meister Wang lächelte. „Du bist nie in Bian gewesen... Aber du hast recht, verglichen mit allem, was uns seit unserer Verschleppung aus Xi Xia begegnete, ist dies ein Ort, der zivilisiert wirkt...“
Samarkand lag auf einer Hochebene, durch die sich der Fluss Serafchan zog.
Sie erreichten das prachtvolle Stadttor. Li fiel auf, dass es mit sehr vielen Wächtern besetzt war und dass auch die Wehrgänge der Mauern sehr stark bemannt waren. Ein Zeichen dafür, dass man sich vor äußeren Feinden fürchtete. Li hatte inzwischen einen feinen Instinkt dafür entwickelt. Ähnliche Zeichen waren ihr auch in den Oasenstädten aufgefallen, durch die sie zuletzt gezogen waren. Konnte es sein, dass die Furcht vor dem Kara Khan sich auch hier noch bemerkbar machte? Es schien so zu sein.
Die Wachen ließen Thorkild und sein Gefolge schließlich passieren, nachdem dieser einen Ring vorgezeigt hatte, der ihm offenbar besondere Privilegien einräumte. Und außerdem wechselten einige Silbermünzen den Besitzer.
In der Stadt herrschte geschäftiges Treiben. Menschen in bunten Gewändern bevölkerten die Straßen und Li kam sich ziemlich schäbig vor in ihrer Kleidung. Grob gewebte Gewänder und Hosen, wie sie die Nomaden trugen, sah man kaum in den Straßen dieser prachtvollen Stadt. Blau schimmerten Kuppeln und Türme.
Die Kamele wurden in einer Karawanserei versorgt und dort lud man auch die Stahlbarren zunächst einmal ab. Was die Nordmänner untereinander redeten, vermochte Li nicht zu verstehen, aber es war ziemlich offensichtlich, dass Thorkild ihnen einschärfte, die Barren nicht aus den Augen zu lassen. Zwischenzeitlich rief Thorkild Li herbei, damit sie für ihn übersetzte. Die Kameltreiber verstanden ihr Uigurisch, während Thorkild sich mit ihnen ansonsten nur sehr unzureichend auf Persisch hätte verständigen können.
Zwei Tage verbrachten sie in der Karawanserei. Von der Stadt, in der angeblich jeden Tag ein Buch geschrieben wurde, hatte Li noch nicht viel gesehen, mal abgesehen davon, dass ihr beim Weg zur Karawanserei aufgefallen war, dass man an jeder Ecke die Dienste eines Schreibers mieten konnte und es in den Straßen und auf den Märkten tatsächlich Händler gab, die Abschriften verschiedener Bücher im Angebot hatten. Ohne, dass Li das im Einzelnen hätte nachprüfen können, nahm sie an, dass es sich dabei wohl vor allem um Abschriften des Koran handelte.
„Und wo sind die Werkstätten der Papiermacher, von denen gesprochen wurde, während wir diese Reise unfreiwilligerweise antraten?“, wandte sie sich an ihren Vater. „Ich sah viele prächtige Gebäude, aber wer sagt, dass das wirklich alles Stätten der Gelehrsamkeit sind, in denen Bücher aufbewahrt werden?“
„Nur Geduld, mein Kind. Wir werden nach und nach sicher mehr erfahren“, behielt Meister Wang wie üblich die Ruhe.
Es schien keine Schicksalsschlag zu geben, der heftig genug war, um ihn aus seinem inneren Gleichgewicht bringen zu können und in dieser Hinsicht konnte Li immer nur wieder ein Vorbild in ihm sehen. „Jetzt sitzen wir hier in einem Kamelstall und sehen diesen großäugigen Trampeltieren dabei zu, wie sie auf ihren Mahlzeiten herumkauen und dabei die Hälfte aus dem Maul verlieren!“ Li ahmte den Gesichtsausdruck von einem der Tiere nach, das daraufhin einen Moment lang innehielt und ihr entgegenstarrte.
„Das geziemt sich nicht“, sagte Meister Wang.
„Wir könnten ja versuchen uns einfach davon zumachen!“, schlug Gao vor, der sich unter Meister Wangs strengen Augen ein Grinsen nur schwer verkneifen konnte.
„Das würde ich nicht empfehlen“, widersprach Meister Wang. „Dieser Mann, den man den Eisenbringer nennt, scheint in Samarkand hervorragende Beziehungen zu haben. Davon abgesehen hätten uns seine Männer innerhalb kürzester Zeit wieder eingefangen und dann wären wir schlimmer dran als jetzt. Nein, wir sollten darauf vertrauen, dass sich die Dinge zu unseren Gunsten wenden.“
Li wandte sich an Bruder Anastasius. Inwiefern er etwas von der Unterhaltung der drei Papiermacher mitbekommen hatte, vermochte Li schwer abzuschätzen. Sie wusste mit Sicherheit, dass er Latein, Griechisch und Persisch sprach und wohl auch ein paar Brocken in den uigurischen und türkischen Dialekten. Aber ob er auch die Sprache des Han-Volkes verstand oder zumindest ein paar Wörter kannte, hatte sie nicht herausfinden können und entsprechenden Fragen war Bruder Anastasius bisher auch stets ausgewichen. Fast schien es so, als gefiel es ihm, sie darüber im Unklaren zu lassen, sodass sie nie wusste, ob sie sich unbelauscht mit Gao und ihrem Vater unterhalten konnte oder nicht. Andererseits, wenn er tatsächlich so weit in den Osten gelangt war, wie er behauptet hatte, dann war es äußerst unwahrscheinlich, dass er kein einziges Wort der Han-Sprache dabei aufgeschnappt hatte.
Mochte er auch ein noch so heiliger Mann sein. Auch er musste essen und brauchte in der Nacht eine Unterkunft – und darüber immer nur mit Händen und Füßen zu verhandeln, war auf die Dauer gewiss etwas kompliziert.
„Wohin wird Euch Euer Weg führen?“, fragte sie. „Wisst Ihr das schon?“
„Thorkild wird mich zumindest bis Buchara mitnehmen. Und dort werde ich mit Sicherheit jemanden finden, der mich in Richtung Konstantinopel mitnimmt. Sich allein auf den Weg zu machen, dürfte allerdings wohl kaum empfehlenswert sein. Und ich kann nur hoffen, dass der Eisenbringer sich bald auf den Weg macht...“
„Warum?“
„Weil der Weg über Buchara vielleicht schon bald nicht mehr sicher ist. Die Krieger des Kara Khan haben die Stadt schließlich schon einmal erobert und man munkelt, dass sie einen erneuten Versuch unternehmen könnten. Der Emir zieht überall Truppen zusammen.“
„Das klingt nicht gut“, sagte Li. „Und wenn Ihr nicht mehr hier seid, werden mir Eure Lektionen in Griechisch und Latein fehlen.“
„Du solltest nicht damit aufhören, die Wörter zu wiederholen, die ich dir beigebracht habe“, meinte Bruder Anastasius. „Du weißt nicht, wann du dieses eines Tages mal brauchen kannst – und zumindest griechisch sprechende Menschen verirren sich doch auch ab und zu hier her, nach Samarkand...“
„Wer weiß, eines Tages begegnen wir uns vielleicht in Konstantinopel und dann könnt Ihr sehen, wie viel ich von Eurem Unterricht behalten habe“, entgegnete Li.
„So, wie du das sagst, klingt es fast, als würde es sich tatsächlich erfüllen“, lächelte Bruder Anastasius.
„Ich habe es mir fest vorgenommen, das Zentrum des Reiches der Mitte im Westen zu besuchen, wenn ich ihm schon einmal so nahe gekommen bin!“
„Nahe?“ Der Mönch hob die Augenbrauen. „Der Weg bis Konstantinopel