Wächter führten Li, Meister Wang und Gao in den eigentlichen Palast, dessen Pracht sie sprachlos werden ließ. Die kunstvollen Mosaiken mussten von großen Künstlern geschaffen worden sein, die ihr Handwerk in wahrhafter Perfektion ausgeübt hatten. Formen, die an die fließenden Schriftzeichen des Koran erinnerten, waren darunter zu sehen und manchmal war sich Li nicht sicher, ob es nicht tatsächlich auch arabische Schriftzeichen waren, die in kunstvollen Ligaturen erhabene Worte in persischer oder arabischer Sprache festhielten. Ein Grund mehr, auch diese Zeichen noch zu lernen, ging es Li durch den Kopf.
Neben diesen Schriftzeichen ähnelnden Ornamenten herrschten vor allem Muster vor, die ihr gut gefielen, denn sie vermittelten etwas von jener Harmonie der Dinge, wie sie selbst hinter scheinbar widerstreitenden Kräften eigentlich stand, auch wenn es manchmal schwer war, dies zu erkennen. Diese Muster schienen Li ein Sinnbild dafür zu sein, dass die Welt im Innersten geordnet war. Auch wenn diese Wahrheit manchmal von dem Eindruck überlagert wurde, die Welt wäre ein Ort des undurchschaubaren Chaos und das Leben nur eine Abfolge unvorhersehbarer, plötzlich auftretender Ereignisse.
„Ich habe doch gesagt, dass sich alles zum Gute wenden wird“, sagte Meister Wang.
„Warten wir ab, ob es uns wirklich zum Guten gereicht, was hier auf uns wartet“, murmelte hingegen Gao zweifelnd vor sich hin.
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Prinz Ismail war ein Mann von schlanker Gestalt und einem scharf konturierten Gesicht. Der dunkle Oberlippenbart und das spitze Kinn unterstrichen die markanten Linien. Das Haupthaar war grau durchwirkt. Dunkle Augen unterzogen die drei Papiermacher einer kurzen, aber sehr intensiven Musterung.
Er trug ein einfaches weißes Gewand, das bis zum Boden reichte. Weiß, wie das Gewand eines Pilgers, der sich auf die Reise zu den heiligen Stätten im fernen Mekka gemacht hatte. Einzig die kostbare Gürtelschnalle und der juwelenbesetzte Griff des Zierdolches wiesen auf seinen Rang hin. In seinem Gefolge befand sich neben einem Leibdiener und mehreren Wächtern auch ein Hofbeamter mit einem Burnus auf dem Kopf und einer bunten Schärpe um die Schultern. Auch Thorkild Eisenbringer war anwesend. Im Gegensatz zu seinem sonstigen Auftreten war er allerdings unbewaffnet. Vermutlich duldete Prinz Ismail in seiner unmittelbaren Umgebung keine Bewaffnung, außer bei seinen Wächtern, um sich vor Attentaten zu schützen.
Meister Wang fiel vor dem Prinzen auf die Knie. Gao und Li folgten seinem Beispiel. Schließlich machte Prinz Ismail ein Zeichen, das ihnen gestattete, den Blick zu heben.
„Ich habe gehört, dass ihr unsere Sprache sprecht“, sagte der Statthalter von Samarkand.
„Wir bemühen uns um die richtigen Worte“, erwiderte Meister Wang.
„Ich hoffe, dass euer Handwerk gut ist, denn dann werdet ihr hier euer Auskommen haben. Ich selbst bin ein großer Freund des Glaubens und der Gelehrsamkeit und beide können den Unglauben und die Unwissenheit nur mit Hilfe von Büchern besiegen. Das ist der eigentliche Kampf, dem sich jeder Gläubige verschreiben sollte, die große Anstrengung, die von den Gelehrten auch der Djihad genannt wird. Und das Werkzeug dazu kann nicht nur das Schwert sein, sondern vor allem das Buch und die Schrift. Denn das Schwert trifft das Herz und tötet, aber die Schrift trifft das Herz und inspiriert mit Weisheit...“ Einige Augenblicke schwieg Prinz Ismail. Seine Sprache war gleichzeitig von großer Klarheit und Einfachheit. „Unglücklicherweise können wir auf das Schwert nicht zu Gunsten des Buchs verzichten, aber vielleicht wird das eines Tages der Fall sein, wenn sich die Einsicht und der Geist überall ausgebreitet haben und ein Kampf nur noch ein Kampf um die Wahrheit der Worte ist, wenn die Schärfe des Arguments die Schärfe der Klingen ersetzt. Aber bis dahin bedarf es vieler weiser Bücher, die auf Papier geschrieben werden. Papier, das die Weisheit Allahs trägt und doch von Heiden aus dem Bottich geschöpft wird. So kann aus Dummheit und Ahnungslosigkeit doch Weisheit geschaffen werden. Allah wird wird wissen, warum.“
„Herr, ich bin ein Meister meines Handwerks, und meinem Gesellen und meiner Tochter habe ich diese Kunst auf dieselbe Weise gelehrt, wie ich sie verstehe.“
„Das ist gut“, nickte der Statthalter. „Ich habe euch gesagt, dass ihr euer Auskommen haben werdet – aber ihr seid nicht frei. Ihr dürft euch innerhalb der Mauern von Samarkand frei bewegen und ihr dürft alle Geschäfte tätigen, die zur Ausübung eures Handwerks vonnöten sind. Ansonsten wird man euch alles zur Verfügung stellen, was ihr benötigt, um euer Handwerk auszuüben. All das wird man euch als Schuld gegen mich anrechnen, die ihr mit eurer unermüdlichen Arbeitskraft bezahlen werdet.“
„So sei es, Herr“, gab Meister Wang zurück.
Was wäre ihm auch anderes übrig geblieben.
Li verstand sehr wohl, was die Worte des Statthalters bedeuteten. Sie waren etwas Ähnliches wie Schuldsklaven. Leibeigene, die wohl kaum je die Möglichkeit hatten, diese Schuld zu begleichen.
„Mein Hofschreiber wird darüber ein Schriftstück erstellen, sodass alles seine Rechtmäßigkeit hat“, sagte Prinz Ismail schließlich. „Wenn ihr euch entschließt, dem wahren Glauben beizutreten und bezeugt, dass es nur einen Gott gibt und Mohammed sein Prophet ist, wird euch ein Drittel eurer Schuld erlassen.“
„Eure Großzügigkeit kennt keine Grenzen“, sagte Meister Wang.
Ismail wandte sich an den Schreiber, bei dem es sich wohl um den etwas geckenhaft wirkenden Hofbeamten mit Burnus und Schärpe handelte. „Du hast meine Worte gehört.“
„Ja, Herr.“
„Und zahl dem Nordmann seinen Anteil in Silber aus, wie er es gewünscht hat. Aber behaltet eine Hälfte des Betrages ein, bis wir gesehen haben, ob das Talent der Papiermacher dem entspricht, was er uns versprochen hat.“
„Sehr wohl, Herr.“
Der Statthalter machte seinen Wächtern ein Zeichen, woraufhin er mit ihnen zusammen den Raum verließ.
Nur zwei Bewaffnete blieben zusammen mit dem Hofbeamten und Thorkild Eisenbringer zurück.
Dessen Gesicht war deutlich anzusehen, wie wenig ihm die letzten Worte des Statthalters zugesagt hatten. Vielleicht befürchtete er, dass Samarkand bereits ein Raub des Kara Khan geworden war, bevor er den vollen Erlös für seine Beute einstreichen konnte? Oder hatte er, was das Talent seiner Gefangenen anging, vielleicht so sehr übertrieben, dass er sich nicht sicher sein konnte, ob sie diese Erwartungen auch erfüllen konnten? Jedenfalls war Li immer wieder überrascht darüber, wie ungeschminkt und offen die Menschen des Westens ihre innersten Regungen nach außen dringen ließen. Ihre Gesichter waren Spiegelbilder ihrer Seele. Dabei legten sie weder darauf Rücksicht, dass es vielleicht in ihrem eigenen Interesse liegen konnte, die Regungen ihrer Seele stärker zu verbergen, noch kümmerte sie das Erschrecken derer, die dem Anblick ihrer fassungslosen Gesichter schutzlos ausgeliefert waren, da es ihnen die Höflichkeit verbot, in aller Deutlichkeit den Blick abzuwenden.
Der Hofbeamte trat an ein Stehpult, an dem Papier und Feder verfügbar waren. Das Papier war Li bereits aufgefallen. Es war von mittlerer, gerade noch annehmbarer Qualität, wenn man einmal davon absah, dass die Farbgebung nicht die nötige Gleichmäßigkeit hatte.
Noch während er schrieb, sprach er Thorkild auf Griechisch an. Er schien offenbar nicht anzunehmen, dass unter den Papiermachern aus dem fernen Osten jemand war, der diese Sprache zu verstehen vermochte und er sich daher mit dem Nordmann vollkommen ungestört unterhalten konnte, mit dem er im Übrigen sehr vertraut zu sein schien.
„Es gefällt anscheinend nicht allen, dass jeder Barren Stahl, der in die kalten Heidenländer des Nordens gebracht wird, durch deine Hände geht, Eisenbringer“, sagte der Beamte, während der Blick seiner grauen Augen auf das Schriftstück gerichtet war, das er gerade ausstellte.
„Wie meint Ihr das?“,