Morgan Young griff ebenfalls an und stellte fest, daß der Hahn der Muskete bereits gespannt war. Sofort packte er zu und versuchte, dem Gegner die Waffe zu entreißen, während Romero die Kette fest um die Gurgel des Mannes zusammenzog.
Der Wachtposten konnte nicht mehr schreien, nur ein ersticktes Gurgeln drang noch über seine Lippen. Doch trotz Youngs verzweifelter Bemühungen, ihm die Muskete zu entwinden, konnte er seinen Zeigefinger doch noch um den Abzug krümmen.
Dröhnend löste sich der Schuß, überlaut in der dramatischen Szene des Ringes um Leben und Tod. Pulverqualm hüllte die Gestalten der drei Männer ein. Romero begann zu husten.
Young riß die Muskete noch an sich, jetzt, da es zu spät war. Der Soldat sank zu Boden. Romero ließ von der schlaffen, jetzt reglosen Gestalt ab, bückte sich und brachte die Pistole in seinen Besitz, die der Soldat im Gurt trug.
Young warf die Muskete fort, bemächtigte sich des Säbels und des Messers des Spaniers und wollte zu den Kameraden zurückeilen, die darauf warteten, befreit zu werden. Doch vor den Palisaden ertönten das Rufen von Stimmen und das Herantrappeln eiliger Schritte.
„Wir können die anderen nicht mitnehmen!“ stieß Romero in höchster Erregung aus. „Wir können sie nicht befreien, wir …“
„Morgan! Romero!“ rief Jonny ihnen zu. „Haut ab! Haltet euch nicht auf und rettet wenigstens eure Haut! Von draußen könnt ihr später immer noch was für uns tun! Los, verschwindet!“
Young und der junge Spanier zögerten nicht länger, sie drückten das Tor wieder auf und liefen ins Freie.
Dicht vor ihnen war das Geschrei der spanischen Posten, aus der Finsternis wurden Gestalten sichtbar. Young riß den Säbel hoch, um sie abzuwehren, aber Romero hatte bereits die Pistole in Anschlag auf die anstürmenden Männer gebracht und drückte auf den vordersten von ihnen ab.
Der Soldat brach mit einem Wehlaut zusammen. Die anderen stutzten, legten selbst mit ihren Musketen und Pistolen an und zielten auf die beiden Sträflinge, deren Körperkonturen sie vor der Palisade erkennen konnten.
Morgan Young rannte nach links davon, Romero folgte ihm.
Drei Musketenschüsse krachten, und Young war es so, als schlüge eine Kugel dicht hinter seinen Hacken in den Erdboden. Doch er wurde nicht verletzt, und auch Romero blieb unversehrt. Zu hastig gezielt waren die Schüsse der Soldaten, die alle fehlgingen, zu schlecht waren die Sichtverhältnisse.
Es krachte noch zwei- und dreimal, und die Kugeln bohrten sich mit plokkenden Lauten in die Pfähle der Palisadenwand, an der die beiden Flüchtlinge wie von tausend Teufeln gehetzt vorbeirannten.
„Zum Hafen!“ rief Romero seinem Begleiter auf englisch zu.
„Unmöglich!“ schrie Morgan Young über seine rechte Schulter zurück. „Sie sperren uns den Weg dorthin ab. Sie knallen uns ab, ehe wir eins der Boote erreichen!“
Er lief weiter, so schnell er konnte, quer über die Lichtung hinweg, die die Kettensträflinge hier in Airdikit dem Dschungel abgerungen hatten. Er hastete zwischen den Hütten hindurch, die das Gros der Offiziere und Soldaten beherbergten, blieb nicht stehen, warf nur noch einmal einen Blick zurück und registrierte, daß der junge Spanier ihm weiterhin folgte.
Tatsächlich wäre es heller Wahnsinn gewesen, den Durchbruch bis zum Hafen zu versuchen. Das erste, was die Spanier auf den alarmierenden Musketenschuß hin getan hatten, war, den Zugang zum Hafen abzuriegeln, denn sie konnten sich ja ausmalen, daß im Fall eines Ausbruchs die Sträflinge eine der Pinassen oder Schaluppen zu kapern versuchten, die an den hölzernen Anlegern vertäut lagen.
So blieb Young und Romero nur noch eine Möglichkeit, nämlich in den Busch zu fliehen.
Young fürchtete bei allem Schneid, den er zu beweisen vermochte, den Dschungel. Das hatte er auch seinen Freunden von der „Balcutha“, Romero, Jonny und den anderen Verschwörern gegenüber offen zugegeben. Denn Morgan Young wußte, welche Gefahren im Urwald von Sumatra lauerten, und jeder andere Mann, der ehrlich seine Meinung aussprach, mußte bestätigen, daß es nahezu Selbstmord bedeutete, hier in der Nacht unterzutauchen.
Hier, im Feuchtigkeit ausströmenden Dickicht, lauerten der Tiger und andere Raubkatzen, hier konnte ein Schlangenbiß dem menschlichen Leben ein jähes, schmerzhaftes Ende bereiten. Hier gab es Krokodile und andere grauenvolle Kreaturen. Und die Mangrovensümpfe zwischen der Strafkolonie und dem Meer, die sich bis in unendliche Weiten auszudehnen schienen, waren die Brutstätte für eine Anzahl abscheulicher Krankheiten, gegen die der Mensch machtlos war, wenn er einmal von ihnen befallen wurde.
Aber Young und Romero hatten keine andere Wahl. Wenn sie den Soldaten entkommen wollten, die jetzt ihre Verfolgung aufgenommen hatten, konnte dies nur im Dschungel geschehen.
Ohne zu zögern, sprang Young deshalb in das Dickicht jenseits der Hütten, durchtrennte mit raschen Säbelhieben ein paar Lianen und widerspenstiges Dornengerank und drang tief in das Gestrüpp vor. Romero schloß sich ihm ohne Widerworte an. Auch er hatte begriffen, daß im Urwald die einzige Chance lag, sich den Feinden zu entziehen.
Wenn das halbwegs mißglückte Unternehmen doch noch gelingen sollte, dann konnte es nur auf diese Weise geschehen.
Young drehte sich kurz zu seinem Begleiter um und gab ihm das Messer des Soldaten. Er selbst fuhr fort, sich mit dem Säbel einen Weg durch das dichte, verfilzte Gesträuch zu bahnen, und Romero unterstützte ihn dabei, so gut es mit dem Messer ging. Sie sprachen nicht miteinander, sondern hackten und schnitten mit ihren Beutewaffen nur schwitzend auf Zweige, Blätter und Luftwurzeln ein.
Über ihnen rumorte der stürmische Wind in den Wipfeln der gigantischen Bäume, hinter ihnen war das wütende Geschrei der Verfolger. Natürlich hatten die spanischen Soldaten gesehen, wie die beiden im Dikkicht verschwunden waren. Sie waren ihnen nah genug auf den Fersen, verließen ebenfalls die Lichtung und benutzten den Pfad, den Morgan Young mit dem Säbel geschaffen hatte.
Es war mehr eine Bresche als ein Pfad, aber sie erlaubte doch ein erheblich schnelleres Vorankommen. Daß er den Gegnern ungewollt geholfen hatte, ging Morgan Young erst auf, als er ihre Stimmen ganz dicht hinter seinem Rücken vernahm.
Er verstand inzwischen genug Spanisch, um zu begreifen, was sie riefen.
„Bleibt stehen, oder wir schießen euch nieder!“
„Ergebt euch!“
„Ihr seid verloren!“
Young achtete nicht darauf. Nichts konnte ihn dazu veranlassen, sich den Feinden freiwillig zu stellen. Nur der Tod konnte seiner Flucht ein Ende bereiten. Wenn der eisige Hauch des Todes ihnen beiden schon im Nacken saß, so zog er das schnelle Sterben doch einer Rückkehr ins Gefangenenlager vor. Dort würde man ohnehin Gericht über sie halten, dort wartete am Ende der Henker auf sie, denn sie waren ja nicht nur aus dem Palisadenlager ausgebrochen, sondern hatten auch einen Soldaten getötet. Daß Romero ihn mit der Kette erwürgt hatte, stand für Young außer Zweifel.
Wieder krachten Schüsse. Sirrten die Kugeln links und rechts an Young und dem jungen Spanier vorbei – oder täuschten sie sich? War es vielmehr der Wind, der ihnen mit seinem Pfeifen und Heulen etwas vorgaukelte?
Young hörte auf, mit dem Säbel wie mit einer Machete auf das Dikkicht einzuhauen. Er ließ die Waffe sinken, duckte sich tiefer und schlüpfte in ein dorniges, hartes Gebüsch, das auf morastigem Boden wuchs.
Romero war immer noch dicht hinter ihm.
Das Gebüsch ritzte mit seinen Dornen Youngs Haut, und er drohte, darin steckenzubleiben. Verbissen arbeitete er sich jedoch weiter voran und ließ sich sogar auf alle viere nieder, um besser voranzukommen. Er schob den Säbel vor sich her und robbte durch den schwarzen Schlamm, der ihn von oben bis unten beschmutzte.
Plötzlich krachte wieder ein Schuß, und er hörte Romero hinter sich aufschreien.
Er stieß einen Fluch aus und