Das steinerne Gebäude war jetzt zum Greifen nahe vor ihm.
Er brauchte nicht zweimal hinzusehen. Er kannte genügend asiatische und auch ostasiatische Länder, um zu wissen, daß dies nur der Palast des Raja sein konnte. Das Wort Palast war zwar reichlich übertrieben, im Vergleich zu den Hütten aber angebracht.
Während Hasard beobachtete, glaubte er plötzlich, fernes Stimmengemurmel zu hören. Er hielt den Atem an. Möglich war auch, daß diese Stimmen aus dem Palast kamen. Zum Herumrätseln war keine Zeit. Er mußte der Sache auf den Grund gehen.
Lautlos schlich er weiter und bahnte sich jetzt vorsichtig seinen Weg durch das Unterholz, denn die rückwärtigen Fensterhöhlen des Palasts waren nur einen Steinwurf weit entfernt.
Je mehr er sich der jenseitigen Gebäudeecke näherte, desto deutlicher waren die Stimmen zu vernehmen. Und wenige Minuten darauf hatte Hasard Gewißheit.
Es waren Stimmen, die Portugiesisch sprachen!
Vorsichtig schob sich der Seewolf weiter, bis er die Seitenmauer des Palasts im Blickfeld hatte. Jetzt war er kaum noch überrascht, als er sie dort stehen sah.
Laurindo de Carvalho und seine Landsleute.
Der Einäugige stolzierte unruhig auf und ab und redete gestikulierend, während die anderen an der Mauer lehnten.
Hasard erblickte die Fensteröffnung knapp über dem Erdboden. Die Tatsache, daß einer der Portugiesen mit schußbereiter Muskete vor diesem Fenster stand, ließ keinen Zweifel offen. Dies mußte das Verlies sein, in dem Ed Carberry und die anderen gefangengehalten wurden. Immerhin schienen sie also noch am Leben zu sein.
Hasard atmete auf.
Von dem Gerede de Carvalhos kriegte er nur Wortfetzen mit. Was er heraushören konnte, war die Empörung des Portugiesen darüber, daß er von den Beratungen im Königspalast ausgeschlossen war.
Der Seewolf lächelte kalt. Also hatte der Kutscher mit seinen Mutmaßungen recht gehabt!
Hasard hielt sich nicht länger auf. Er wandte sich ab und kehrte ebenso geräuschlos wie zuvor zu seiner Gruppe zurück. Mit gedämpfter Stimme informierte er sie über seine Beobachtung. Die Augen der Männer leuchteten. Auf einen Wink des Seewolfs öffneten Al Conroy und Big Old Shane die Kisten.
Assistiert von den anderen, erledigte der Stückmeister seine Arbeit im Handumdrehen. Sie rammten Bambusstöcke in den weichen Boden und banden die Raketen in ihren Führungsrohren daran fest. Diese Mitbringsel aus dem Reich der Mitte richteten zwar keinen Schaden an, waren dafür aber in ihrer Wirkung bislang immer äußerst eindrucksvoll gewesen.
„Fertig!“ flüsterte Al Conroy schließlich. Die glimmende Lunte hielt er schon in der Hand.
Hasard zog seinen Radschloßdrehling und gab das Zeichen. Gemeinsam mit den anderen pirschte er los. Al Conroy blieb zurück, und deutlich war das Zischen der ersten Zündschnüre zu hören.
Das chinesische Feuer würde auch für Ben Brighton das vereinbarte Zeichen zum Angriff sein.
Der Feuerzauber begann, als sie die Rückseite des Königspalasts erreichten.
Fauchend zog die erste Rakete ihre Bahn bis hoch über das Dorf. Während die nächsten Raketen ebenfalls zischend aufstiegen, detonierte die erste mit einem Krachen, der an Kanonendonner erinnerte. Feurige Blitze zuckten über den Hütten auf, ein Funkenregen in allen schillernden Farben des Regenbogens schwebte langsam nieder.
Noch bevor dieser erste Funkenregen erloschen war, detonierte die zweite Rakete. Und dann ging es Schlag auf Schlag. Ein ohrenbetäubendes Stakkato von Detonationen hallte über die Ansiedlung der Insulaner.
Entsetzensschreie wurden laut. Wie von allen Teufeln gehetzt, verließen die ersten Indonesier ihre Hütten und suchten mit Frauen und Kindern Zuflucht im nahen Dschungel.
Chaos setzte ein. Unter dem andauernden Krachen des chinesischen Feuers schwoll das panikartige Stimmengewirr an. Auch Flüche auf portugiesisch waren jetzt zu hören.
Al Conroy schloß mit langen Sätzen zur Gruppe des Seewolfs auf. Spätestens jetzt mußten Ben Brighton und die anderen vom jenseitigen Dorfrand vordringen. Auch die Gefangenen mußten jetzt begriffen haben, daß der Augenblick der Entscheidung da war.
Hasard und seine Männer erreichten die Palastecke, als die Portugiesen auszuschwärmen begannen.
Wie vom Donner gerührt, prallten sie zurück, als sie die Seewölfe erblickten.
Zwei der Portugiesen hatten den Riegel entfernt und waren im Begriff, die Tür zu öffnen. Verständlich, daß sie ihre Gefangenen in Sicherheit bringen wollten, denn diese Gefangenen bedeuteten letztlich noch immer das Faustpfand, dessen Gegenwert eine englische Galeone bester Bauart war.
Aber diese Rechnung würde Hasard ihnen gründlich durchkreuzen. Jetzt und auf der Stelle.
Laurindo de Carvalho, schon auf dem Weg zur Vorderseite des Palasts, wirbelte herum.
Die Seewölfe wichen zu breiter Front auseinander.
Und das Überraschungsmoment war auf ihrer Seite. Während die Portugiesen ihre Waffen noch hochrissen, krachten die ersten Warnschüsse. Ohne Ergebnis.
De Carvalho schrie einen gellenden Befehl und zog gleichzeitig seine Pistole aus dem Gurt.
Die Portugiesen gehorchten und ergaben sich nicht. Ihre Musketen und Pistolen flogen hoch.
Das Krachen des chinesischen Feuers verebbte.
Hasard, der eine erste Kugel als Warnschuß aus seinem Drehling abgefeuert hatte, stürmte voran, auf die Portugiesen zu, hakenschlagend.
Seine Männer hatten die Musketen fallen lassen und griffen zu den Pistolen. Reaktionsschnell warfen sie sich zu Boden.
Mündungsblitze zuckten dem Seewolf auf seinem rasanten Sturmlauf entgegen. Er spürte den Gluthauch einer Kugel, die haarscharf über ihn wegsirrte.
Breitbeinig stand de Carvalho da. Unter der Augenklappe war sein Gesicht zu einem teuflischen Grinsen verzerrt, als er den Seewolf herannahen sah. Für einen Sekundenbruchteil blickte Hasard in die großkalibrige Pistolenmündung. Der Zeigefinger des Einäugigen krümmte sich.
Weiter entfernt sah Hasard Ben Brighton und seine Männer herbeieilen. Hinter sich hörte er die Pistolenschüsse seiner Gruppe und das erste Klirren von Säbeln und Entermessern.
Eine feurige Lanze stieß aus der Pistole de Carvalhos.
Im selben Moment schnellte Hasard vor, überschlug sich knapp über dem Boden, rollte sich ab und war im nächsten Atemzug federnd auf den Beinen.
Donnernd entlud sich der Radschloßdrehling.
Ein Ausdruck grenzenlosen Entsetzens malte sich in de Carvalhos Gesichtszügen. Langsam, unendlich langsam sank er in sich zusammen, die Pistole entfiel seinen kraftlos werdenden Fingern.
Hasard wirbelte herum. Mit dem Einäugigen konnte er kein Mitleid empfinden. Nicht nach allem, was geschehen war.
Er ließ die Waffe sinken. Seine Männer hatten bereits für klare Verhältnisse gesorgt.
Drei, nein vier Portugiesen waren es, die mit langen Sätzen ihr Heil in der Flucht suchten. Die anderen lagen reglos am Boden. Von ihnen war keine Gegenwehr mehr zu erwarten. Sie hatten de Carvalho und seinen hinterhältigen Plänen zur Seite gestanden und dafür ihr Leben gelassen.
Aus dem Verlies erschienen die Gefangenen mit klirrenden Ketten. Ihre Gesichter strahlten, freudiges Gebrüll zur Begrüßung wurde laut.
Ferris Tucker begann sofort mit der Arbeit und benutzte die stumpfe Seite einer Axt, um die Splinte loszuschlagen, mit denen die stählernen Ringe der Ketten gesichert waren.
Aus dem Dorf gellten noch immer die Schreie der Indonesier. Mit einem Blick über den Vorplatz des Palastes stellte Hasard