„Tritt ein“, sagte er. „Du frierst ja, das sehe ich. Ich will hier nur eben meine Sachen loswerden, dann gehen wir sofort ins Haus hinüber.“
„Ja“, sagte sie leise. „Danke. Du bist so freundlich, Olaf Sundbärg.“
„Das bin ich immer.“ Er warf seine Beute auf das Heu und entledigte sich auch der Waffen und des Bündels, in dem er seinen Proviant bei sich getragen hatte.
Erst jetzt erkannte Aina, daß Olaf einen Wolf auf seiner Schulter getragen hatte. Sie fuhr unwillkürlich zusammen und wich wieder zurück. Olaf blickte sich zu ihr um. Ja, sie war schön – und sehr jung. Jünger noch, als er zuvor angenommen hatte. Zum erstenmal hatte er die Gelegenheit, sie aus nächster Nähe zu betrachten.
„So ein Leichtsinn, dich ganz allein in den Ort zu schicken“, sagte er. „Ich glaube, ich muß mit Börje Magnusson mal ein ernstes Wort reden. Ein Mädchen wie dich jagt man doch nicht so einfach in den Schnee hinaus. Er hätte dir wenigstens ein Pferd geben können.“
„Ich kann nicht reiten.“
„Ach so. Aber sonst bist du sicherlich sehr begabt. Ein liebes, anständiges Mädchen, nicht wahr?“
Sie schien ihm nicht richtig zuzuhören, ihr Blick war unausgesetzt auf den toten Wolf gerichtet. Es war, als habe sie ein unerklärlicher Bann gefangengenommen.
„Ist das – ein richtiger Wolf?“ fragte sie mit leicht bebender Stimme.
„Ja. Unechte Wölfe gibt es nicht.“ Wieder lachte er auf. „Dieser hier war sogar ein besonders gefährliches Exemplar, er hat mich ziemlich zum Narren gehalten und wäre mir um ein Haar an die Gurgel gesprungen.“
„Du hast ihn erledigt?“ Ihre Augen weiteten sich noch ein bißchen mehr. „Ich wußte nicht, daß du ein so guter Jäger bist. Toll, daß du das geschafft hast.“
„Ich kann noch viel mehr.“ Er forderte sie durch eine Gebärde auf, ein Stück näher zu treten. „Fühl doch mal, wie weich sein Fell ist. Nein, du brauchst wirklich keine Angst zu haben, er ist ja tot. Gefällt es dir? Möchtest du es haben?“
Aina bückte sich und strich mit der Hand über den Rücken des Tieres. Sie war fasziniert. Natürlich hatte sie schon des öfteren Wolfspelze gesehen, nicht aber ein gerade erst erlegtes Tier.
„Ich schenke es dir“, sagte Olaf und rückte näher auf sie zu. „Es gehört dir.“
„Das kann ich nicht annehmen“, flüsterte sie und hielt ihren Blick immer noch auf den Wolf gerichtet.
Olaf griff plötzlich nach ihren Hüften, drehte sie mit einem Ruck herum und warf sie auf das Heu.
„Du kannst ja dafür bezahlen“, sagte er, und plötzlich ging sein Atem stoßweise. „Wir können prächtig miteinander ins Geschäft kommen, findest du nicht auch?“
Erst jetzt begriff sie, was er vorhatte, und schrie auf. Sie versuchte noch, ihm auszuweichen, doch er warf sich auf sie und hielt sie fest.
„Schrei ruhig“, sagte er. „Mein Alter hört dich nicht. Er sitzt auf seinen Ohren. Wir sind ungestört.“
Aina schlug mit ihren Fäusten auf ihn ein, doch er lachte nur. Sie kratzte und biß und griff verzweifelt um sich – und plötzlich hielt sie seine Pistole in den Fingern. Olaf hatte sie nicht nachgeladen, doch Aina hätte ohnehin nicht damit umzugehen gewußt. Sie hieb ihm den Kolben mit aller Kraft gegen die Schläfe, und das wirkte: Olaf stöhnte auf und rollte von ihr weg.
Aina sprang auf und lief zum Tor hinaus. Sie war versucht, zum Hauptgebäude des Gehöfts hinüberzurennen, doch sie unterließ es, denn sie wußte nicht, was sie dort erwartete. Vor Angst wie von Sinnen hetzte sie zum Zaun, stieß die Pforte auf und war im nächsten Augenblick in der Dunkelheit verschwunden.
Olaf erhob sich, rieb sich den schmerzenden Kopf und wankte auf den Hof hinaus. Er wollte sie verfolgen und war sicher, sie im Wald einzuholen, um dort das fortzusetzen, was er begonnen hatte, doch unvermittelt erschien die Gestalt des alten Sixten Sundbärg in der offenen Tür des Hauptgebäudes.
„Olaf!“ schrie er. „Bist du’s? Bist du zurückgekehrt?“
Olaf blieb stehen und entgegnete: „Ja, Vater. Ich habe einen Wolf mitgebracht. Komm her und sieh ihn dir an.“
Während der alte Mann über den Hof schritt, blickte Olaf in die Dunkelheit und dachte: Du hast Glück gehabt, Aina, aber ich erwische dich noch. Du entgehst mir nicht. Du wirst für das, was du mir angetan hast, büßen, das verspreche ich dir.
Der Seewolf mußte mit Schärfe vorgehen, um seine enttäuschten und aufgebrachten Männer zur Räson zu bringen.
„Die Order ist ein Auftrag der Königin, und damit basta!“ rief er. „Für die Königin segelt man mitten in die Hölle hinein – oder auch mal in die Ostsee, wenn es sein muß! Will das endlich in eure verdammten Schädel oder nicht?“
„Selbstverständlich, Sir“, entgegnete Ferris Tucker. „Es lebe die Lissy. Da hat sie uns was Feines eingebrockt.“
„Wie knüpft man denn Handelsbeziehungen an, Dad?“ wollte Philip junior wissen.
„Darüber gebe ich euch noch Unterricht“, erwiderte Hasard grimmig. „Hat sonst noch jemand Fragen?“
Keiner antwortete, deshalb schickte er sie alle auf ihre Posten zurück, und die Reise wurde mit Kurs Nordosten fortgesetzt. Tiefe Dunkelheit hatte sich eingestellt, die Lichter der Schiffslaternen waren verlorene Punkte im schwarzen Mantel der Nacht.
Im Verlauf der nun folgenden Stunden legte der Westwind an Stärke noch etwas zu. Sturmböen peitschten auf die Takelung ein, und das Ruder der „Isabella IX.“ wurde auf eine harte Bewährungsprobe gestellt. Hasard wich nicht mehr vom Achterdeck. Seine Miene war besorgt, er wußte nicht, wie das Schiff auf diese große Belastung reagieren würde.
Die Jungfernfahrt war erfolgreich verlaufen, doch wenn die Naturgewalten unablässig die Materialien beanspruchten wie jetzt, waren die Bedingungen anders. Es konnte unangenehme Überraschungen geben. Hesekiel Ramsgate war – daran gab es keinen Zweifel – Englands bester Schiffsbauer, doch auch er konnte keine perfekte Galeone konstruieren, die jedem Wetter auf Anhieb trotzte.
So kam, was kommen mußte: In dieser Nacht brach die Backbordruderkette. Pete Ballie fluchte wie verrückt, doch es war nicht seine Schuld, niemand warf ihm etwas vor.
Zum Glück hatte die „Isabella IX.“ Kap Skagen mittlerweile gerundet. Hasard konnte also getrost Kurs Osten halten – vor dem Sturm lenzend. Vorläufig bestand nicht die Gefahr, daß das Schiff samt seiner Mannschaft auf Legerwall gejagt wurde. Das Problem war, wie sie den Schaden beheben sollten.
„Bei diesem Wetter ist das ein Ding der Unmöglichkeit, Sir!“ schrie Ferris Tucker im Heulen des Windes, nachdem er die gebrochene Kette untersucht hatte. „Ich kann nur ein Hilfsruder ausbringen, die Kette muß im nächsten Hafen neu geschoren werden! Anders geht es nicht!“
„Ben!“ rief der Seewolf zum Achterdeck hinauf, wo Ben Brighton sich zu Pete Ballie ins Ruderhaus begeben hatte. „Wie heißt der nächste Hafen?“
„Göteborg!“ schrie Ben zurück.
Hasard drehte sich auf dem Quarterdeck zu Nils Larsen um, der gerade auf dem Hauptdeck mit Stenmark gesprochen hatte und eben wieder aufenterte. „Nils, kennst du dich in Göteborg aus?“
„Ich bin nur einmal dort gewesen, Sir!“ rief der Däne. „Sten weiß besser Bescheid!“
Hasard gab Ferris Tucker den Befehl, das Hilfsruder auszubringen. Jack Finnegan, Paddy Rogers, Sam Roskill und Luke Morgan sollten ihn bei der Arbeit unterstützen. Es dauerte keine halbe Stunde, dann war das Behelfsruder fertig, und der Seewolf ließ Kurs auf Göteborg nehmen.
So hatte die Fahrt in die Ostsee also bereits mit Haken und Ösen begonnen