„Ich bin in Kungelf geboren“, erklärte sie. „Und ich erinnere mich jetzt, daß viel über den rätselhaften Tod eines Mädchens getuschelt und geredet wurde, mit dem ein Stenmark zu tun gehabt haben sollte.“
Stenmark sagte: „Sie hieß Kerstin Nilsson, aber ich habe sie nicht umgebracht, das mußt du mir glauben. Olaf Sundbärg ist der wahre Schuldige, und ich werde ihn des Mordes überführen.“
„Ich will dir gerne glauben“, sagte Aina langsam, „denn du scheinst ein ehrlicher Mann zu sein, und eigentlich hättest du ja auch keinen Grund gehabt, mir dies alles zu erzählen. Aber wie soll ich dir helfen?“
„Indem du niemandem auch nur ein Sterbenswörtchen von dem verrätst, was wir zusammen gesprochen haben.“ Er blickte zu dem Gehöft. „Was ist dieser Börje Magnusson für ein Mann? Ein Zugereister? Ich kenne ihn nicht.“
„Er kommt aus Uddevalla und hat diesen Hof vor zehn Jahren errichtet, ganz allein. Man kann sich auf ihn verlassen, er ist ein guter Mensch. Er hat Frau und Kinder, und ich fühle mich wohl bei der Familie, denn ich werde gut behandelt.“
„Aina“, sagte Stenmark eindringlich. „Wir werden uns vielleicht wiedersehen, doch bewahre bis dahin Stillschweigen über das, was ich dir anvertraut habe. Eins versichere ich dir jedoch: Olaf Sundbärg wird auch für das bezahlen, was er dir angetan hat. Ich weiß, daß er dich rücksichtslos mißbraucht hätte, wenn dir die Flucht nicht geglückt wäre. Er kennt keine Skrupel. Er ist wie eine Bestie in Menschengestalt.“
„Ja, das habe ich gemerkt“, sagte sie. „Ich wünsche dir Erfolg bei deinem Vorhaben. Wenn Sundbärg schuldig ist, dann verdient er es, daß man ihn aburteilt. Solltest du jedoch in Schwierigkeiten geraten, dann werde ich versuchen, dich irgendwie zu unterstützen.“
Sie drückten sich stumm die Hände, sahen sich noch einmal an und trennten sich voneinander. Stenmark stieg in den Sattel des Schimmels und ritt davon. Aina zog den mit Holzscheiten und Reisig vollgeladenen Handwagen zum Gehöft, wo niemand ihr Zusammentreffen mit dem rätselhaften Mann verfolgt hatte. Eine der Kühe kalbte gerade, und dies verlangte der Magnusson-Familie ihren vollen Einsatz ab.
5.
Stenmark erreichte den Hof der Sundbärgs erst, als es bereits fast völlig dunkel geworden war. Um diese Jahreszeit waren die Tage noch kurz, und die Nacht setzte schnell ein.
Er ritt nicht direkt bis vor die Gebäude, sondern hielt im Wald und saß ab. Er versteckte den Schimmel in einem blattlosen Dickicht, dann verbarg er auch sich am Rande des Waldes hinter dem Stamm einer mächtigen Eiche und beobachtete das Anwesen.
Natürlich konnte er hineingehen und Olaf Sundbärg herausfordern, doch diese Art des Handelns brachte ihm wenig ein. Sein Vetter hatte in seinen eigenen vier Wänden alle Vorteile auf seiner Seite, er konnte Stenmark überwältigen und gefangennehmen, und es würde außer dem alten Sixten – falls dieser noch am Leben war – keine Zeugen für das Geschehen geben.
Sixten war nie ein schlechter Mensch gewesen, doch sicherlich würde er seinen eigenen Sohn verteidigen und Stenmarks Worten nicht den geringsten Glauben schenken. Das war verständlich.
Stenmark verfolgte die Bewegungen von Gestalten hinter den erleuchteten Fenstern des Hauptgebäudes und glaubte, zwei Männer unterscheiden zu können. Er vernahm sogar, wie sie sich laut unterhielten. Es waren Sixten und Olaf, kein Zweifel. Zuerst dachte Stenmark, sie stritten sich über etwas, doch dann ging ihm auf, was der wahre Grund für die Lautstärke ihrer Unterhaltung war. Sixten war schwerhörig. Sein Sohn brüllte, um von ihm verstanden zu werden, und der alte Mann schrie zurück, weil er nicht mehr die rechte Kontrolle über seine Stimmstärke hatte.
„Komm doch mit!“ rief Olaf. „Ich will mal wieder richtig einen heben, und du könntest mich begleiten!“
„Nein, aus dem Alter bin ich heraus!“ schrie der alte Mann. „Und Bier haben wir auch hier zu Hause.“
„Wie du willst! Ich gehe jetzt los!“
„Nimm lieber eins der Pferde!“
„Nein, ich lege die Strecke zu Fuß zurück! Bis nach Kungelf ist es ja nicht weit!“
„Ich weiß schon, du willst nicht betrunken vom Pferd fallen und dir die Knochen im Leib brechen!“ rief Sixten Sundbärg. „Aber paß trotzdem auf! Sauf dir den Hals nicht so voll, daß du ohnmächtig draußen im Schnee liegenbleibst, verstanden? Wenn du erfrierst, hast du selber schuld!“
„Ich gebe schon auf mich acht“, sagte Olaf, dann verabschiedete er sich von seinem Vater und ging.
Stenmark beobachtete ihn, wie er das Wohnhaus verließ, eine Laterne anzündete und zur Pforte marschierte.
Olaf Sundbärg verzichtete auf ein Pferd, weil er nicht wußte, wann er aus Kungelf zurückkehren würde. Das konnte heute nacht geschehen, aber wenn er eine Frau für sich fand, konnte es genausogut sein, daß er zwei Nächte im Ort verbrachte, und dann war es ihm hinderlich, an ein Tier denken zu müssen, das zu versorgen war.
Stenmark ließ den großen Mann, der sich schweren Schrittes durch den Schnee voranbewegte, nicht aus den Augen. Er hatte hundert Möglichkeiten, ihn zu töten und sich für das zu rächen, was er ihm zugefügt hatte. Doch nicht das war es, was Stenmark anstrebte. Er wollte Gerechtigkeit und rehabilitiert werden. Kein Schuß, mit dem er Olaf niederstreckte, half ihm weiter, kein Duell zwischen Todfeinden mitten in der Nacht, nichts dergleichen. Er wollte korrekt vorgehen, und er brauchte Zeugen für das, was er plante.
Aus diesem Grund griff er Olaf nicht an, obwohl er mehrmals den Drang, dies zu tun, kaum bezwingen konnte. Er nahm die Verfolgung auf, zog das Pferd am Zügel hinter sich her und achtete darauf, stets so viel Abstand zwischen dem Vetter und sich zu lassen, daß dieser ihn weder hören noch sehen konnte.
Weich setzten die Hufe des Schimmels im Schnee auf und verursachten kaum einen Laut. Stenmark hielt sich zwischen den Baumstämmen verborgen, Olaf jedoch schritt über die offene Ebene und folgte dem Verlauf eines Pfades.
Kungelf war nicht mehr weit entfernt, man konnte jetzt schon die Lichter des Ortes in der Dunkelheit funkeln sehen. Stenmark erinnerte sich, daß es dort drei Wirtshäuser gegeben hatte, als er noch hier gewesen war. Inzwischen waren es vielleicht mehr, aber das spielte keine Rolle. Olaf würde ihn bis an sein Ziel führen, er brauchte sich nur weiterhin an seine Fersen zu heften.
Stenmark dachte an Olafs Mutter, seine Tante. Sie war schon seinerzeit krank gewesen und hatte oft das Bett hüten müssen. Er selbst hatte sie nur selten gesehen, so daß er keine genaue Erinnerung an sie hatte. Sie noch lebend anzutreffen, wäre allerdings das letzte gewesen, mit dem er gerechnet hatte.
Olaf hatte eine laute, dröhnende Stimme, die alle anderen übertönte und führte das große Wort.
Hamren bewegte sich hinter der Theke auf Stenmark zu, wischte sich die Hände an einem Tuch ab, das sicherlich zu Weihnachten zum letztenmal gereinigt worden war, und blickte den neuen Gast fragend an. Stenmark hielt den Kopf leicht gesenkt, so daß der Wirt ihn vorläufig nicht wiedererkennen konnte.
„Was darf’s sein?“ fragte Hamren.
„Bier natürlich“, entgegnete Stenmark. „Einen großen Humpen voll, aber nicht mit zuviel Schaum.“
Hamren beugte sich ein wenig vor. „Hör mal zu – ich bin weder ein Schaumzapfer noch ein Leutebescheißer, Fremder. Wenn du mir so kommst, dann kannst du gleich wieder gehen.“
Stenmark hob den Kopf und blickte ihn voll über die Theke hinweg an.
„Hamren, wir beide brauchen uns nichts vorzuerzählen, oder?“ sagte er nicht sonderlich laut. „Schenk mir jetzt das Bier ein, ich habe Durst.“
Hamren sackte der Unterkiefer herunter und brachte vorläufig kein Wort mehr hervor. Er sah Stenmark an, als habe er ein Gespenst vor sich.
Stenmark legte eine kleine Silbermünze auf die Theke und schob sie ihm zu. Hamren schloß