„He, Ed!“ rief Smoky von der Back herab. „Hast du deinen Vogel wiedergefunden? Na, ist ja fein. Aber mach dir keine Sorgen, so schnell krepiert er ganz bestimmt nicht.“
„Wer spricht denn davon?“ brüllte Carberry. „Mich juckt es nicht, wenn er verreckt! Mir geht’s ums Prinzip! He, Sir John, du alte Nebelkrähe, laß dir bloß nicht einfallen, noch mal abzuhauen, sonst wanderst du ab zum Kutscher in den Kessel!“
Er drehte sich um und steuerte mit langen Schritten auf Ben und die Gruppe von Männern zu. Smoky und Al Conroy stießen sich mit den Ellenbogen an und grinsten sich zu, dann verließen sie ihre Posten für kurze Zeit und gesellten sich zu den Kameraden auf der Kuhl. Ben gab noch einmal bekannt, was der Seewolf ihm soeben mitgeteilt hatte.
Dann aber legte Carberry los: „Ist ja prächtig, wir sind bald in diesem Scheiß-Skagen, aber ist das vielleicht ein Grund für euch, eure Posten im Stich zu lassen, ihr Prielwürmer? Wollt ihr meutern? Haut ab kehrt marsch, zurück auf Manöverstation – oder ich ziehe euch die Haut in Streifen von euren verlausten Affenärschen!“
Hasard, der immer noch bei Pete und Nils im Ruderhaus stand, mußte unwillkürlich lachen.
„Ist das nicht herrlich?“ sagte er. „Ganz unser alter Carberry – und die guten Zeiten der ‚Isabella‘ scheinen wieder angebrochen zu sein, nicht wahr?“
„Ja, Sir“, erwiderte Nils Larsen. „Das Gebrüll erinnert mich an früher. Weißt du noch, damals in der Karibik?“
„Und ob“, brummte Pete an Hasards Stelle. „Aber manchmal wünsche ich mir, das alte Rauhbein sollte endlich mal einen feinen Schnupfen kriegen – wie Arwenack und Sir John. Ich ertrage sein Geschrei nun schon seit fünfzehn oder sechzehn Jahren, wie lange genau, das weiß ich schon selbst nicht mehr.“
Hasard und Nils lachten, Hasard kehrte in seine Kammer im Achterdeck zurück und holte das Kuvert, das Lord Gerald Cliveden ihm im Hafen von Plymouth überreicht hatte. Wie immer die Order auch lauten mochte – er war froh darüber, daß die Stimmung an Bord so gut wie in den vergangenen Zeiten war. Das war ihm im Moment wichtiger als alles andere.
2.
Olaf Sundbärg hatte sich im tiefen Schnee niedergelassen und wartete auf sein Opfer. Die Kälte kroch durch seine Pelzkleidung und griff nach seinem Leib und seinen Gliedmaßen, doch er harrte mit verbissener Miene aus. Bald würde es dunkel sein. Rötliche Schleier im Westen begleiteten die Sonne auf dem Ende ihrer Bahn, nur noch kurze Zeit, und sie würde hinter dem Horizont untergegangen sein. Sundbärg aber hielt hartnäckig an seinem Vorhaben fest. Die ganze Nacht über wollte er, wenn es sein mußte, hier auf seinem einsamen Posten aushalten.
Immer wieder hatte der Wolf, den er erlegen wollte, ihm ein Schnippchen geschlagen. Sundbärg war seit zwei Tagen unterwegs und hatte mehr als ein Dutzend Fallen aufgestellt, doch es hatte ihm alles nichts genutzt. Hier und da war der von ihm ausgelegte Köder verschwunden, aber kein Tier zappelte im Fangseil oder Fangeisen. Nicht einmal Blutspuren hatten davon gekündet, daß Isegrim zumindest verletzt worden war.
Es handelte sich um einen alten Einzelgänger, der alle erdenklichen Tricks kannte. Sundbärg fühlte sich von ihm herausgefordert und wollte den Kampf um jeden Preis gewinnen. Nur einmal hatte er ihn im Verlauf des Tages von weitem gesehen, nie hatte er sich so weit anzupirschen vermocht, um einen sicheren Schuß aus der Flinte anbringen zu können. Wo sich das Lager des Wolfes befand, wußte er immer noch nicht.
Jetzt hatte er am Ufer des Flusses Göta ein Kaninchen als Köder ausgelegt, diesmal jedoch ohne Falle. Seine Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Die Dunkelheit nahte mit langen grauen Schatten, doch der Wolf ließ auf sich warten. Sundbärg fluchte in seinen Gedanken, gab aber nicht auf.
Die Kälte war grimmig, nahm immer mehr zu, zerrte an seinem Körper. Bald würde es schneien. Wenn Isegrim die Nacht zu seinem Verbündeten machte, würde es ihm vielleicht gelingen, den einsamen Mann anzufallen – und wenn er schnell genug war, würde er der Sieger sein.
Ein Anflug von Furcht stahl sich in Sundbärgs Geist, doch er verdrängte ihn. Er wollte seine Lage geringfügig ändern, doch plötzlich erstarrte er. Ganz deutlich hatte er hinter einem der Schneebuckel, die das Bild der Flußlandschaft prägten, eine Bewegung erkannt. Er war sicher, sich nicht getäuscht zu haben. Da – ein grauer Rücken schob sich auf das Ufer zu, schnürte daran entlang und näherte sich dem Köder.
Sundbärg fühlte sich vom Jagdfieber gepackt, sein Atem ging schneller. Der Augenblick der Entscheidung war da, die Lage spitzte sich zu. Der Wind aus Westen war günstig für den Mann, aber der Wolf war schlau und erfahren, vielleicht nahm er seine Witterung doch auf.
Der Abstand zwischen dem Jäger und seinem Wild schrumpfte zusammen, der Wolf glitt unbeirrt auf das Kaninchen zu. Sundbärg fragte sich in diesem Moment, ob es nicht besser gewesen wäre, das Tier am Leben zu lassen, statt einen toten Köder zu benutzen, doch es war zu spät, noch irgend etwas zu verändern. Der Wolf hatte den Platz am Ufer erreicht. Die Distanz betrug höchstens dreißig Schritte – Sundbärgs Zeigefinger krümmte sich um den Abzug der Flinte.
Plötzlich hob der Wolf den Kopf und blickte genau in die Richtung seines Jägers. Er sah den Kopf des großen, blonden Mannes, ihre Blicke schienen sich zu kreuzen. Sundbärg zögerte nicht mehr, er drückte ab, und donnernd brach der Schuß in der Stille und Einsamkeit der Landschaft.
Sundbärg sah, daß er getroffen hatte. Er sprang auf und lief zum Ufer. Doch der Wolf war nur verletzt, er erhob sich ebenfalls und wandte sich knurrend seinem Todfeind zu. Nur einen Schuß hatte die Flinte, Sundbärg konnte nicht so schnell nachladen, wie das Tier sich auf ihn stürzen würde. Er begriff, daß er einen Fehler begangen hatte. Er hätte eine doppelläufige Waffe oder aber zwei Flinten mitnehmen sollen.
Ihm blieb nur eine Chance. Er zückte seine Steinschloßpistole, blieb stehen und legte noch einmal auf den Wolf an. Die Reichweite der Pistole war geringer als die des Gewehres. Sundbärg mußte den Wolf nah an sich heran lassen, um einen präzisen Schuß anbringen zu können. Dazu aber gehörten eiserne Nerven. Er hielt die Waffe mit beiden Händen fest, zielte und bezwang den Drang, auszuweichen und seinen Standort zu verlagern.
Mit gefletschten Zähnen hielt der Wolf auf ihn zu, er schien wahnsinnig vor Haß und Schmerzen zu sein. Nur noch fünf, sechs Schritte trennten ihn von dem großen Mann mit den hellen Augen.
Der Wolf knurrte und setzte zum Sprung an, doch Sundbärg feuerte. Wieder fand die Kugel ihr Ziel, das Tier überschlug sich und blieb reglos liegen. Sundbärg atmete auf, ließ noch ein wenig Zeit verstreichen und näherte sich seiner Beute erst, als er ganz sicher war, daß der Wolf ihn nicht wieder zu überlisten versuchte.
Wenig später hatte er ihn sich auf die Schulter geladen und schritt zu dem Platz am Ufer, an dem er sein Boot vertäut hatte. Er lud das tote Tier ab, verstaute auch die Waffen an Bord, stieg dann selbst über das Dollbord und nahm auf der mittleren Ducht Platz. Er legte die Riemen in die Dollen und begann zu pullen, den Göta-Fluß abwärts und zurück zu seinem Ausgangsort, von dem aus er vor zweieinhalb Tagen aufgebrochen war.
Immer wieder schaute er auf den Wolf hinunter und dachte: Gerissen warst du, das muß ich dir lassen, aber deine ganze Klugheit hat dir nichts genutzt. Ich werde noch andere Einzelgänger wie dich zur Strecke bringen. Man wird mich deswegen bewundern, einem Jäger wie mir gebührt Achtung.
Vorerst aber hatte Olaf Sundbärg genug von der Jagd, es zog ihn jetzt mit Macht nach Hause. Er sehnte sich nach einem züngelnden Kaminfeuer, nach mehreren großen Humpen Bier – und nach einer Frau. Er würde sie suchen und finden, und falls sie ihm Widerstand leistete, würde er sie bezwingen wie den Wolf, der zu seinen Füßen lag.
Kap Skagen war erreicht. Ein letzter, rasch verlassender Schimmer mattroten Lichtes lag auf den Decks