„Eine List?“ wiederholte Onno Osten. „Aber wie?“
„Man muß nur seinen Grips anstrengen“, sagte die alte Frau. „Nun seid mal still, ich bin nämlich schon dabei. Lüder und ich haben die ganze Nacht über noch darüber rumgegrübelt, aber es wollte nichts Rechtes dabei herausspringen.“ Plötzlich schnalzte sie mit zwei Fingern und schaute die Männer an. „Aber jetzt hab’ ich’s! Eine gute Idee! Wir brauchen dazu zwei Mädchen – besser noch, zwei von unseren jungen Frauen.“ Sie blickte über die Schultern der Männer und sah Herma und Grete nicht weit entfernt vor dem Groot-Jehanschen Tor stehen und miteinander tuscheln.
„He, ihr!“ rief Frieda. „Kommt mal her, wir brauchen euch!“
„Moment“, sagte Onno schwerfällig. „Dazu habe ich auch noch was zu sagen.“
„Keine Angst, deiner Herma wird keiner ein Härchen krümmen“, sagte Frieda freundlich und warf ihrem Pflegesohn Lüder dabei einen vernichtenden Blick zu.
„Hier sind wir“, sagte Grete unbekümmert. Herma hingegen hatte sichtlich Angst. Hatte Frieda Onno etwas von der Geschichte mit Lüder erzählt? Sie spürte, wie ihre Beine zu zittern begannen.
„Auf euch werden die Engländer bestimmt nicht schießen“, sagte Frieda. „Aber wir wollen auf euch schießen.“
„Was?“ stieß Onno entsetzt hervor, und auch Willem schienen die Augen fast aus dem Kopf zu fallen. „Ist das dein Ernst, Groot-Jehans-Mutter?“ fragte Onno verdattert. „Jetzt versteh ich gar nichts mehr.“
„Lüder“, sagte die dürre Alte scharf. „Kann man eine Flinte so laden, daß sie nur kracht, aber nicht richtig schießt?“
„Aber sicher doch“, entgegnete dieser. „Man läßt die Kugel weg, dann explodiert nur das Pulver. Das verursacht viel Lärm, aber es passiert nichts dabei.“ Plötzlich grinste er. „Ich weiß schon, was du vorhast.“
„Ja?“ Sie lächelte zurück. „Aber du spielst bei der List nicht mit. Onno und Willem sollen hinter ihren Frauen herjagen, ihr anderen Mannskerle liegt hinter dem Deich und rührt euch nicht, bevor die Engländer erscheinen.“
„Wieso sollen die Engländer denn erscheinen?“ fragte Willem völlig verständnislos. „Das will mir nicht in den Kopf.“
„Hört mal alle genau her“, sagte Frieda. „Ich erklär’s euch. Paßt aber gut auf, ich will nichts zweimal erzählen.“
Sie steckten die Köpfe zusammen, und wenig später war Friedas Plan beschlossene Sache. Auf Baltrum hingegen waren die Lütt-Jehans nach wie vor zu keinem Ergebnis ihrer Verhandlungen gelangt.
Friedas Idee hingegen schien den Schlüssel zum Erfolg zu bergen. Wenn die Engländer mit ihrer „Isabella“ schon nicht auf die Pfahlbarriere gelaufen waren, so mußten sie doch in die nächste Falle tappen, die die Jehans für sie aufstellten.
„Deck!“ schrie Bill plötzlich vom Mars nach unten. „Es tut sich was!“
Die Arbeiten an Deck waren abgeschlossen, die Hälfte der Crew hatte sich gerade zu einer von Hasard angeordneten Ruhepause zurückziehen wollen. Jetzt aber eilten die Männer ans Schanzkleid und spähten in die von Bill angegebene Richtung – nach Norderney.
Dort liefen zwei Mädchen – oder junge Frauen – den Deich hinunter und stürmten offensichtlich in kopfloser Panik über den Strand auf die Brandung zu. Sie stießen kurze, spitze Schreie aus.
Carberry, der sich von Dan O’Flynn ein Spektiv hatte aushändigen lassen und einen Blick hindurchwarf, stieß einen anerkennenden Pfiff aus. „Donnerwetter, die sind aber gut beieinander. Nun seht euch doch mal diese Prachtweiber an. He, Shane, schau mal, was die eine für große …“
„Schnickschnack“, fiel ihm der alte O’Flynn ins Wort. „Merkst du nicht, daß das schon wieder so eine Arglist ist, um uns hinters Licht zu führen?“
„Ja, Donegal, das geht selbst mir auf“, entgegnete der Profos langsam. „Ich bin ja schließlich nicht blöd, oder?“
„Hat das wer behauptet?“ sagte Dan aufgebracht. „Daß mir ja keiner unseren Profos beleidigt.“
Carberry hob verblüfft die Augenbrauen. Was sollte er davon halten? Ergriff Dan O’Flynn tatsächlich Partei für ihn? Oder nahm er ihn doch nur wieder auf den Arm?
Gerade wollte Carberry dazu etwas sagen, da ertönte über ihnen wieder Bills Stimme: „Die Mädchen werden verfolgt!“
Tatsächlich – zwei Ostfriesen waren oben auf dem Deich erschienen, sie schwangen ihre Flinten und hetzten hinter den Frauen her, die die Brandung erreicht hatten und Anstalten trafen, sich in das Wasser zu stürzen. Die beiden Männer brüllten wie verrückt, dann legte der eine von ihnen auf die Frauen an.
„Ach, du meine Güte“, sagte Carberry. „Was soll das denn werden?“
„Ich kenne die beiden“, brummte Roger Brighton. „Die waren heute nacht bei dem Überfall mit dabei.“
„Richtig“, bestätigte Mac Pellew. „Dem einen habe ich kräftig was übergebraten. Daß er sich davon schon wieder erholt hat – kaum zu glauben.“
„Die Ostfriesen sollen besonders harte Rüben haben“, erklärte Nils Larsen. „Ich weiß das aus sicherer Quelle. Als ich noch ein Junge war, war ich mal auf Wangerooge. Dort lebt ein ähnlicher Menschenschlag wie hier.“
„Ist ja hochinteressant“, sagte Smoky. „Aber wollen wir hier tatenlos stehen und zusehen, wie die Idioten auf ihre Frauen schießen?“
Ein Schuß krachte, von Willems Flinte stieg eine weiße Wolke Pulverqualm auf. Grete kreischte auf und brach auf dem Sandstrand zusammen. Herma schrie wie von Sinnen und rannte in die hohen Brandungswellen.
„Da brat mir doch einer einen Barsch!“ stieß der Profos empört aus. „Sind diese Säcke total durchgedreht?“
„Das ist doch alles nur Theater“, sagte der alte O’Flynn. „Sie haben sich hübsch was ausgedacht, um uns anzulocken.“
„Ja“, sagte nun auch der Seewolf. „Aber hoffentlich haben sie sich dabei nicht verkalkuliert.“
„Es könnte aber auch was Wahres an der Sache dran sein“, meinte Nils Larsen. „In Ostfriesland soll ein Mädchen nämlich nur solange Jungfrau bleiben, wie es schneller als Vater und Bruder laufen kann.“
„Ist das dein Ernst?“ Carberry sah ihn völlig verdutzt an. „So was gibt’s doch nicht! Bist du nicht mehr ganz dicht?“
„Das nennt man Inzucht“, mischte sich Dan O’Flynn ein. „Ja, auch ich habe gehört, daß so etwas besonders auf diesen Inseln gang und gäbe ist.“
„Blödsinn.“ Der Profos schüttelte den Kopf. „Ihr wollt mich ja bloß verschaukeln. Aber das kann ich auch selber, verstanden?“
„Aye, Sir“, erwiderte Dan und Nils.
Wieder krachte ein Schuß. Onno hatte zum Schein auf Herma geschossen. Herma zuckte zusammen, ihre Angst war echt. Sie malte sich aus, was wohl geschah, wenn Frieda heimlich doch mit ihrem Mann gesprochen hatte. Konnte es nicht sein, daß Onno jetzt über alles unterrichtet war? Daß er seine Waffe scharf geladen hatte, um mit ihr abzurechnen?
Herma schluchzte entsetzt. Auf was hatte sie sich eingelassen? Hatten Frieda und Onno am Ende ein Komplott gegen sie geschmiedet? Sie stürzte ins Wasser, richtete sich wieder auf, wurde von einem Brecher überspült und schluckte Wasser. Sie würgte und spuckte, ihr wurde fast übel, und plötzlich kriegte sie kaum noch Luft. Verzweifelt versuchte sie, zum Ufer zurückzukehren, doch eine Strömung entführte