„Norwegen ist unser Ziel“, meinte Ferris Tucker. „Daran hat noch keiner von euch gedacht.“
„Nicht so laut“, sagte der Seewolf. „Auch hier könnten die Wände Ohren haben.“ Er deutete auf die steil aufragenden Fassaden in der Gasse, die sie gerade durchquerten.
„Und Finnland?“ flüsterte Blacky. „Wie wär’s denn damit? Ich habe gehört, daß die Mädchen dort ihre Schneeschuhe auch dann nicht ausziehen, wenn sie mit einem Mann ins Bett gehen.“
„Aber ihren Fuchspelz legen sie ganz bestimmt ab“, sagte Sam Roskill, und sofort begannen alle anderen zu lachen.
Jetzt wurden doch Wetten abgeschlossen, denn keiner vermochte sich den Zweck der Reise zu erklären.
Fast hatten sie jetzt die „Bloody Mary“ erreicht, und Hasard wandte sich an Thorfin Njal.
„Hör mal zu“, sagte er. „Du mußt mir einen Gefallen tun. Ich könnte noch drei Männer gebrauchen. Ich habe hin und her überlegt und bin zu dem Schluß gelangt, daß meine derzeitige Crew für ein Schiff der Größe der ‚Isabella IX.‘ immer noch ein wenig zu klein ist.“
Der Wikinger schob sich den Kupferhelm ein Stückchen aus der Stirn. „Und was, bei Wotan, habe ich damit zu tun?“
„Gib mir Piet Straaten, Jan Ranse und Nils Larsen. Die gehören doch sowieso nicht zu deiner regulären Mannschaft.“
Thorfin Njal schüttelte energisch den Kopf. „Wo denkst du hin? Ich kann sie nicht entbehren. Schließlich habe ich keine Süßwasserfahrt vor mir. Sie sind nun mal auf dem Schwarzen Segler, und da bleiben sie vorläufig auch.“
„Augenblick“, mischte sich Jean Ribault ein. „Da habe ich ja wohl ein Wörtchen mitzureden. Piet, Jan und Nils sind meine Leute.“
„Richtig“, bestätigte der Wikinger, der schon ahnte, was jetzt folgte. „Und du hast sie mir überlassen, kannst du dich daran erinnern?“
„Ja. Aber von mir aus können sie ruhig auf der ‚Isabella‘ anmustern, dagegen habe ich nichts einzuwenden. Und du solltest nicht so groß ’rumtönen, du hast nämlich genug Leute.“
Thorfin Njal rollte mit den Augen. Hasard grinste, Jean Ribault lachte vergnügt, und die Männer rückten immer dichter zusammen.
„He“, sagte Jan Ranse. „Wollt ihr euch etwa um uns schlagen? Das wäre ja wirklich ein Witz.“
„Nein“, entgegnete der Seewolf. „Ich wollte sowieso vorschlagen, daß wir euch die Entscheidung überlassen.“
„Gegen eine Fahrt auf der neuen ‚Isabella‘ hätten wir ganz und gar nichts“, sagte Piet Straaten, und Jan und Nils nickten zur Unterstützung.
Der Wikinger wollte erneut aufbegehren, doch dann sah er ein, daß es sich nicht lohnte. Er lachte wild, hieb Hasard auf die Schulter und rief: „Na gut, du sollst sie haben, die Himmelshunde! Nils Larsen kann ja auch Deutsch, wie ich gehört habe, das ist euch vielleicht eine Hilfe, wenn ihr zufällig bei den Teutonen landet! Aber das eine ist gewiß, Mister Killigrew: Für meine Großzügigkeit bist du mir heute abend die Zeche schuldig!“
„Einverstanden“, sagte Hasard – und dann betrat er als erster die „Bloody Mary“.
Plymson schien hinter seiner Theke zusammenzuschrumpfen. Er fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen, legte seinen schmutzstarrenden Wischlappen weg und winkte den wenigen Zechern – fünf oder sechs Männern – zu.
„Wir schließen gerade!“ rief er. „Es ist, äh – kurz vorm Zapfenstreich!“
Hasard trat zu ihm an die Theke und sah ihn freundlich an. „So früh schon? Unmöglich, Plymmie. Nun bleib mal ganz ruhig. Wir wollen schön friedlich unseren Abschied von Plymouth feiern und haben nicht vor, irgendein Tänzchen zu beginnen.“
„Abschied?“ fragte Plymson hoffnungsvoll.
„Ja. Morgen früh laufen wir aus. Ich weiß, daß du glücklich darüber bist. Deshalb wirst du uns natürlich nur von deinem besten Wein auftischen. Und wehe dir, wenn das Bier keine Schaumkrone hat und nicht kühl genug ist.“
„Selbstverständlich erhalten Sie bei mir nur erstklassige Getränke, Sir“, beeilte sich Plymson zu versichern. „Also bitte, nehmen Sie doch Platz. Ich werde Sie selbst bedienen, der grobe Johann ist nicht da.“
„Der ist sowieso nie da“, brummte Big Old Shane. „Wir können auch auf dich verzichten und uns selbst bedienen, wir kennen uns ja aus.“
Plymson vollführte eine wedelnde Handbewegung. „O nein, nein. Es ist mir eine Ehre, Ihnen zu Diensten zu sein, Gentlemen.“
„Wie freundlich der heute abend ist“, wunderte sich der Profos. Verdutzt schaute er den Dicken über die Theke hinweg an. „So kennt man ihn sonst gar nicht. Ist heute was Besonderes?“ Plötzlich schien er Plymson mit seinem Blick festnageln zu wollen. „Hast du etwa Geburtstag oder so, Kerl?“
„Ich? Nein.“
„Aber irgendwann mußt du Geburtstag haben. Wann? Na?“
„Es ist mir – entfallen“, stöhnte Plymson, und unter der Perücke wurde es ihm entsetzlich heiß zumute.
„Laß ihn in Ruhe, Ed“, sagte der Seewolf. „Wir wollen anständig sein und seine Einrichtung heil lassen. Los, setzt euch. Alles, was getrunken wird, geht auf meine Kosten!“
„Nicht ganz“, brummte Carberry und beugte sich zu Plymson hinüber, um ihn so freundlich wie ein hungriger Hai zu mustern. „Du hast einen Grund zum Feiern, Plymmie! Du bist uns nämlich bald los. Also? Wie ist das mit der ersten Runde?“
„Die – geht natürlich auf Kosten des Hauses“, ächzte Plymson.
„He, ho!“ rief der Profos. „Plymmie gibt einen für uns aus, ist das nichts?“
„Hurra!“ schrien die Männer und ließen sich an den Tischen nieder. „Hoch soll er leben!“
Allem Anschein nach versprach es ein sehr gemütlicher Abend zu werden.
4.
Zur selben Stunde kämpfte sich unweit der Ostfriesischen Inseln eine holländische Galeone durch den Sturm. Ihr Name lautete „Eendracht“, ihr Heimathafen war Den Haag. Vor vier Tagen noch hatte sie in Hamburg gelegen und Ladung an Bord genommen, jetzt befand sie sich auf der Rückreise. Doch die Fahrt stand unter einem schlechten Stern. Immer weiter drückte der fauchende und heulende Nordwind das Schiff nach Legerwall.
Kapitän Winschoten tat alles, um den Kurs zu halten. Er stand selbst auf dem von Brechern überrollten Achterdeck und bediente den Kolderstock. Doch die schwere See, der Sturm und der Nebel, der sich herabgesenkt hatte, waren einmütig gegen ihn. Statt nach Westen zu laufen, geriet die „Eendracht“ immer weiter nach Südwesten, schließlich nach Süden, und bald war sie nicht mehr weit von Norderney und Baltrum entfernt.
„Wir schaffen es nicht!“ schrie Winschoten im Tosen der Urgewalten seinem Bootsmann van de Pool zu. „Wir laufen gleich irgendwo auf, wenn nicht ein Wunder geschieht!“
„Können wir nicht eine der Inseln ansteuern?“ brüllte van de Pool zurück.
„Ja! Aber wo sollen wir in diesem Teufelswetter verholen? Man kann kaum die Hand vor Augen sehen!“
„Wir müssen nach einer Bucht Ausschau halten!“ schrie der Bootsmann. „Mit etwas Glück gelingt es uns, irgendwo vor Anker zu gehen!“
Das Glück hat uns verlassen, dachte Winschoten, wir sind dazu verdammt, ihn abzureiten und finden keinen Zufluchtsort, an dem wir sein Abklingen abwarten können. Zur Hölle mit der Seefahrt!
Wieder lief