Die letzten Handgriffe wurden getan. Die Boote hatten wieder am Ufer eines Prieles angelegt, die Männer enterten die Sandbank und wanderten zwischen den Pfählen herum, um noch einmal alles gründlich abzusichern.
Lüder Groot-Jehans Gefolgschaft bestand in erster Linie aus seinen Vettern Jode, Jan und Uwe, die untereinander Brüder waren, sowie aus seinem Schwager Willem, Onno und drei anderen „Zugewanderten“. Willem war mit Grete, Friedas Tochter, verheiratet.
Grete, die mit Herma und anderen Frauen und Mädchen am Strand von Norderney stand und verfolgte, was sich im Watt abspielte, war also sozusagen Lüders Halbschwester – was ihn nicht davon abgehalten hatte, auch ihr den Hof zu machen. Davon allerdings wußten weder Willem noch Frieda etwas, sonst hätte es mächtigen Ärger gegeben.
Bei Karl Lütt-Jehan befanden sich die Vettern Heino, Pit, Friedhelm und Brüne, außerdem fünf weitere Männer, deren verwandtschaftliches Verhältnis zu Karl unklar war. Gerlinde, Karls Base, und gut zwei Dutzend andere Mädchen und Frauen hatten sich am Strand von Baltrum eingefunden, um jede Phase des Geschehens verfolgen zu können.
Frieda – sie war hager und knochig und hatte ein vogelartiges Gesicht – hockte im Bug ihres Bootes und spähte aus wachsamen Augen zu Lüder und Karl. Sie wollte ganz sichergehen, daß die Waffenstillstandsregeln auch wirklich nicht verletzt wurden. Wenn Karl Lüder beispielsweise ein Bein stellte, war es aus mit dem Frieden.
Aber die „Brüder“ benahmen sich anständig und gaben sich gegenseitig keinen Anlaß zum Streit.
Nur Eberhard äugte hin und wieder arglistig zu Frieda hinüber und suchte nach einer Möglichkeit, sie ein bißchen zu ärgern. Er war ein riesengroßer Mann mit gerötetem Gesicht und einer Knollennase, sein Alter wurde auf achtzig Jahre geschätzt, doch präzise Daten ließen sich auch hierüber nicht finden. Auch im hohen Alter konnte Eberhard noch ziemlich fuchtig werden, wenn ihm etwas nicht paßte. Dann war er imstande, sogar seinem Liebling Karl eine Maulschelle zu verpassen.
Frieda nickte zufrieden und sagte: „Gute Sache, das. Jetzt, in den schweren Winterstürmen, gerät wieder so manches Schiff in Not. Heute abend kriegen wir Nebel, und bei der hohen See fällt jedem Kapitän die Orientierung schwer. Wenn der Wind weiterhin aus Norden bläst, machen wir noch heute nacht dicke Beute, das ist mal sicher.“
Eberhard Lütt-Jehan stützte sich auf seinen Eichenwurzel-Handstock und glich die Bewegungen des Bootes geschickt mit den Beinen aus.
„Tja, Frieda“, sagte er gemütlich. „Du mußt das ja wissen. Du bist schließlich so ’ne richtige Groot-Jehan.“
Sie warf ihm einen mißbilligenden Blick zu und zischte: „Fängst du wieder an? Du kannst es wohl nicht lassen, was? Aber mich kannst du nicht reizen. Wir Groot-Jehans sind sowieso die Schlaueren. Mein Lüder hat die Idee mit der Falle gehabt.“
„Hoffentlich stellt er sich nicht selbst ein Bein“, sagte der Alte und kicherte. „Er treibt so allerhand, dein Lüder, wie ich hörte, und irgendwann bricht ihm das noch das Genick.“
„Wie meinst du das?“ Frieda war hellhörig geworden.
„Och, nur so.“
„Ja? Paß man auf, daß du dir nicht selbst das Maul verbrennst. Bei uns am Haustor hängt Klusmeier seine Leiche – als Mahnung. Das muß noch aufgeklärt werden, mein Alter.“
Diesmal wurde Eberhard giftig. „Nun aber mal langsam. Mit Klusmeiers Tod haben wir nichts zu tun.“
„Das kannst du mir nicht einreden.“
„Frieda – ich kann es beschwören“, sagte der Alte, und plötzlich wurde er sehr ernst.
„Pah, auf deinen Eid gebe ich nichts.“
Er schluckte es und entgegnete sofort: „Klusmeier ist in der See ertrunken, es hat keiner nachgeholfen. Brüne will ihn in seinem Boot gesehen haben. Die Wellen haben das Boot kentern lassen, und vielleicht hat Klusmeier das Dollbord auf den Kopf gekriegt, so daß er die Besinnung verloren hat. Dann wurde seine Leiche vom Meer angespült.“
„Und das Boot?“ zischte Frieda aufgebracht. „Ist das vielleicht verschwunden? Es hätte doch wohl auch angeschwemmt werden müssen, oder?“
„Deubel“, brummte der Alte. „Das ist auch mir unerklärlich. Aber ich hoffe, daß es irgendwann wieder auftaucht.“
„Das hoffe ich auch, und wie!“ stieß Frieda hervor.
Die Groot-Jehans und die Lütt-Jehans hatten unterdessen ihre Arbeiten an der Falle abgeschlossen und kehrten zu ihren Booten zurück.
„Jetzt brauchen wir bloß noch abzuwarten“, sagte Lüder. „Für uns ist es die beste Erntezeit, ich schlage vor, daß wir Wachen einteilen.“
„Einverstanden“, sagte Karl. „Taucht ein Schiff auf, dann weisen wir ihm den Weg, indem wir am Strand Laternen schwenken.“
Lüder lachte. „Ja. Wir können auch Feuer entzünden, das ist noch ein Stück weiter draußen zu sehen. Na, wir werden den verirrten Seefahrern schon als Lotsen dienlich sein, wenn der Wind weiter so schön auflandig weht.“
„Pullen wir jetzt zum Ufer zurück“, schlug Karl vor. „Bald setzt die Flut ein, und es dauert auch nicht mehr lange, dann wird es dunkel.“
„Halten wir die Augen offen“, sagte Lüder. „Gut möglich, daß es eine feine Nacht für uns wird.“
So pullten sie in ihren Booten zurück, die Groot-Jehans zum Ostufer von Norderney und die Lütt-Jehans zum Westufer von Baltrum. Hier nun wurden Reisig und Holzscheite aufgeschichtet, wobei auch die Frauen und Mädchen eifrig mithalfen. Sie alle malten sich bereits aus, wie es sein würde, wenn das erste Schiff durch die Passage segelte. Es würde mit seinem Rumpf über die Eisenspitzen der Balken schrammen und ihn sich aufschlitzen, und bei ablaufendem Wasser saß es dann völlig fest. Durch das Gewicht drückten sich die Eisenspitzen weit durch den Rumpf, und am Ende saß das Schiff fest, abgepallt wie auf einer Werft.
Der Wind nahm wieder etwas zu, ohne seine Richtung zu ändern. Die Flut stellte sich ein, höher stiegen die Wogen der aufgewühlten See. Die Friesenfalle lauerte auf ihr erstes Opfer, das Verhängnis konnte seinen Lauf nehmen.
Die Schritte der Männer hallten von den Hausmauern im Hafenviertel von Plymouth wider, zielstrebig hielt der Trupp auf die „Bloody Mary“ von Nathaniel Plymson zu. Der Seewolf hatte sich und seinen Männern noch einmal Landurlaub gegeben, denn erst in der Frühe bei Sonnenaufgang würde die „Isabella IX.“ auslaufen.
Der Abend galt dem Abschied von Cornwall – und auch die Crew des Wikingers ging mit, um noch mal „richtig einen hinter die Binde zu kippen“, wie der Boston-Mann lachend gesagt hatte.
Während sie auf Plymsons Kneipe zusteuerten, wurden wieder Vermutungen über die geheime Order angestellt.
„Es geht bestimmt in die Ostsee“, sagte Dan O’Flynn, der neben Hasard marschierte. „Wollen wir wetten?“
„Über so etwas schließe ich grundsätzlich keine Wetten ab“, erwiderte Hasard. „Aber die Wahrscheinlichkeit, daß du recht hast, ist groß, Dan. Nur: Was sollen wir im Auftrag der Königin ausgerechnet in der Ostsee erledigen?“
„Viel gibt’s da nicht zu holen“, sagte Ben.
„Wer sagt denn, daß wir was holen sollen?“ fragte sein Bruder. „Ich könnte mir gut vorstellen, daß wir nur was auskundschaften sollen.“
„Was denn? Einen Seeweg nach China?“ zischte Old O’Flynn. „Hört bloß auf, ihr Stinte, von dem Zeug hab ich die Nase gestrichen voll. Ich will nicht noch mal in so einem Scheißkanal steckenbleiben wie da unten in diesem Elendsland Ägyp …“
„Ruhe im Logis“, unterbrach ihn der Profos. „Wir haben da mal was vereinbart, Donegal. Von den Pharaonen und all dem Dreck wollten wir kein Sterbenswörtchen mehr erwähnen. Halte