„Er wird sie holen, wenn sie zu neugierig sind“, sagte La Menthe. Er war ein sehniger, kräftiger Mann, aus dessen harten Zügen die Mentalität eines unerbittlichen Herrschers sprach. „Wie gut, daß ich auf meinen gewohnten Spaziergang nicht verzichtet habe. Es tut sich heute viel. Viel zuviel für meine Begriffe. Es wird noch Ärger geben.“
Duplessis blickte aus schmalen Augen mal nach Osten, mal nach Westen, aber ohne die Zuhilfenahme des Spektivs konnte er die fremden Schiffe nicht erkennen.
La Menthe reichte ihm in einer gönnerhaften Geste das Rohr. „Hier, wirf selbst mal einen Blick hindurch. Gib mir solange die Muskete.“ Er lehnte sich in seinem Gestühl zurück und streckte die Beine weit von sich, nahm die Muskete aus der Hand seines Landsmannes entgegen und verfolgte fast amüsiert, wie dieser angestrengt hindurchspähte.
„Der Henker mag wissen, warum dieses eine Schiff auf den Sog zuläuft“, brummte Duplessis. „Ist der Kapitän des Wahnsinns, daß er die Gefahr nicht erkennt?“
„Das ist auch mir ein Rätsel“, erklärte La Menthe. „Aber ich habe das untrügliche Gefühl, wir erfahren noch, was der Grund dafür ist, daß er geradewegs in sein Verderben segelt.“
„Und was tun wir?“ wollte Duplessis wissen.
„Wir warten ganz einfach ab.“
„Sie werden alle ertrinken.“
„Und wir rühren keinen Finger für sie“, sagte Regis La Menthe.
„Und die anderen Kerle?“
„Das Schicksal spielt sie uns in die Hände“, antwortete La Menthe. „Ich denke, wir könnten ihre Galeone gut gebrauchen. Es scheint ein prächtiges Schiff zu sein, groß, robust und gut armiert.“
Panik war an Bord der „Novara“ ausgebrochen, denn alle, vom Kapitän bis zum letzten Decksmann, wußten jetzt, was die Stunde geschlagen hatte. Steuerlos trieb die Galeone vor dem Wind, dazu verdammt, in dem tückischen Strudel zu enden.
„Geit auf die Segel!“ schrie Fosco Sampiero vom Achterdeck aus. „Weg mit dem Zeug, verdammt noch mal!“
Die Männer auf dem Hauptdeck hasteten eher ziellos auf und ab und gerieten sich gegenseitig ins Gehege. Roi Lodovisi tat so, als habe er selbst den Kopf verloren. Er brüllte unsinnige Befehle und schlug und trat nach den Männern, die sich in seiner unmittelbaren Nähe befanden.
So vergrößerte er das Durcheinander noch, statt es einzudämmen und für Disziplin zu sorgen – wie es seine Pflicht gewesen wäre.
Sampiero stieg selbst auf die Kuhl hinunter. Er wollte hart durchgreifen und notfalls mit der neunschwänzigen Katze für Ordnung sorgen. Doch ein gellender Schrei, der jetzt aus dem Achterkastell drang und sich in die Rufe der entsetzten Männer mischte, hielt ihn zurück.
Er hatte die Stimme erkannt, sie gehörte seiner Frau Bianca!
Fosco Sampiero fuhr auf dem Absatz herum, riß die Tür zum Achterkastell auf und stürmte in den Gang. Er prallte fast mit Tosca Venturi und Ivana Gori zusammen, die ihre Kammern verlassen hatten und verstört um sich blickten. Der Lärm an Deck hatte sie aus ihrer Nachmittagsruhe gerissen, aus dem Schlummer, mit dem sie die Zeit totzuschlagen suchten, da sie die meiste Zeit des Tages auf Sampieros Anordnung hin unter Deck zu verbringen hatten.
Bianca Sampiero stand am Ende des Ganges vor der offenen Kapitänskammer und schrie erneut auf. Ihr Mann schob sich an den anderen beiden Frauen vorbei und lief zu ihr.
Verdammt, dachte er, du hast dich breitschlagen lassen, die Frauen mitzunehmen, nur für diese eine Reise, gewiß, aber es war doch ein Fehler, und der Teufel hat dich geritten, als du ihren Bitten nachgegeben hast.
„Mein Gott, Bianca!“ rief er. „Was ist? So beruhige dich doch. Wir …“
Er unterbrach sich, denn jetzt sah er endlich die Gestalt, die auf der rechten Seite des Ganges kauerte und sich an der Wand aufzurichten versuchte.
„Medola!“ schrie der Kapitän. „Gerechter Himmel! Sind Sie verletzt?“
„Nicht der Rede – wert, Signor Capitano“, sagte der Bootsmann mühsam. „Er hat mich gestochen, der Hund – aber – aber ich weiß, wer’s war. Zorzo – Mario Zorzo – der Satansbraten. Möge der Herr mir verzeihen, daß ich – in die Falle gegangen bin. Das Ruder – es ist zersägt, Capitano.“
„Wo sind Cavenago und Teson?“
„Noch – unten.“
„Ihr Frauen kümmert euch um ihn!“ rief Sampiero. Dann hatte er auch schon seine Radschloßpistole gezückt und lief zum nächten Niedergang.
„Aufpassen“, flüsterte Vittorio Medola noch. „Das Wasser – im Frachtraum ist ein Leck. Oder – mehrere Lecks. Ich …“
„Was sagt er?“ fragte Tosca Venturi, die nähergetreten war und angestrengt versuchte, etwas von den Zusammenhängen zu begreifen.
„Ich verstehe ihn nicht mehr“, entgegnete die Frau des Kapitäns. Sie beugte sich über den Bootsmann, um ihn anzusprechen, sah aber, daß dieser inzwischen ohnmächtig geworden war.
„Helft mir“, sagte sie zu den Frauen der Offiziere. „Wir tragen ihn in meine Kammer und verbinden seine Wunde.“
Tosca Venturi stöhnte entsetzt auf, als sie sich bückte und die große Blutlache bemerkte, die sich unter Medolas Körper gebildet hatte.
Sampiero hatte den Ruderraum erreicht und fiel fast über die verkrümmte, reglose Gestalt Raoul Cavenagos. Er prallte mit der Schulter gegen das offene Schott, fing sich, kniete sich hin und untersuchte seinen Steuermann. Er tastete nach dem Pulsschlag und beugte sich tief über ihn, um nach dem Pochen des Herzens zu horchen, doch Cavenago gab keine Lebenszeichen mehr von sich.
Erschüttert richtete der Kapitän sich wieder auf. Medola hatte die fast unglaubliche Leistung vollbracht, noch bis zur Kapitänskammer zu kriechen, aber vielleicht lag auch er schon im Sterben. Cavenago war tot. Und Teson, der Schiffszimmermann?
Er wandte sich um und eilte weiter. Mit der Sicherheit eines Mannes, der sein Schiff bis in den letzten Winkel hinein besser kannte als sein eigenes Zuhause, fand er den Niedergang zum Frachtraum und hastete die Stufen hinunter.
Das Rauschen des Wassers empfing ihn. Trotz der Dunkelheit, die hier unten herrschte, sah er die sprudelnde Bewegung, die etwa in der Mitte des Raumes auf beiden Schiffsseiten war. Wasser schoß herein, flutendes Seewasser, das Sampiero fast bis zu den Knien reichte. Die Fässer voll Wein und die Kisten mit dem Werkzeug begannen zu schwimmen und an ihren Brooktauen zu zerren.
Sampiero war sich jetzt des vollen Ausmaßes der Tragödie bewußt. Er war wie vor den Kopf geschlagen, aber er wußte jetzt, wie er sich zu verhalten hatte, Zweifel waren nicht mehr vorhanden.
Alfredo Tesons Körper lag im Wasser, mit dem Bauch und dem Gesicht nach unten, und um ihn herum hatte sich ein dunkler Fleck ausgebreitet. Sampiero brauchte seinen Zimmermann nicht mehr zu berühren, um dessen Tod festzustellen.
Sampiero lief mit der gezückten Pistole nach vorn – nur dorthin konnten Zorzo und dessen Spießgesellen entwischt sein. Sampiero wußte genau, was jetzt zwangsläufig kam. Er ahnte auch, daß Zorzo mit Prevost und diese beiden wiederum mit Lodovisi unter einer Decke steckten. Sein ganzes Bestreben gipfelte im Augenblick darin, die Pistole nicht naß werden zu lassen.
Er konnte nicht versuchen, die Lecks abzudichten und die Ruderanlage notdürftig instand setzen zu lassen. Die Zeit dazu reichte nicht mehr aus. Nur ein Phantast hätte daran geglaubt, das Unabwendbare noch verhindern zu können.
Nur eine Möglichkeit gab es noch: Die „Novara“ mußte auf die Riffe gelenkt werden, ehe sie vom Strudel erfaßt wurde.
Sampiero verließ den Laderaum, hetzte zum Vordeck hinauf. Er hörte hinter sich das Rauschen und Gurgeln des Seewassers und über sich das Schreien der Männer