Nun wurde offenbar, dass Meister Rhaawaan noch im Tode ein aufgeschlagenes Buch an die Brust gepresst hielt. Aberian spießte es mit seinem Schwert auf und warf es Gorian vor die Füße. Die Überschrift des aufgeschlagenen Kapitels war groß genug, dass Gorian sie lesen konnte. „Er sah meine Rückkehr voraus, obwohl alle anderen glaubten, ich sei in den Schlachten um Ameer gefallen, wie so viele von uns“, fuhr Aberian fort. „Da wollte er noch schnell den Beweis für seinen Verrat vernichten: Ein Buch, in dem sich ein Aufhebungszauber von Bannstein-Magie findet! Rhaawaan ist ein Seher und kein Magier, daher musste er sich das nötige Wissen erst aneignen. Dennoch reichten seine Kräfte aus, um den entsprechenden Zauber zu wirken.“
Gorian sammelte seine Kräfte, und seine Augen wurden schwarz. Er streckte die freie Hand aus, und das Buch schwebte empor, bis er es greifen konnte.
Die aufgeschlagenen Seiten enthielten tatsächlich detaillierte Anweisungen, wie man den Zauber von Bannsteinen durch ein einziges magisches Ritual aufheben und dauerhaft zerstören konnte. Alles, was Aberian sagte, klang plausibel.
Aber da war etwas, was Gorian zweifeln ließ. Etwas, das nicht passte. Er konnte noch nicht einmal genau sagen, was es war, dass ihn so empfinden ließ. Ein Fehler in der Aura seines Gegenübers? Ein besonderes Merkmal an dem Buch? In der Schwertmeister-Ausbildung mochte er weit fortgeschritten und dem Meisterstadium sogar schon recht nahe sein. Aber was die Ausbildung in anderen Häusern betraf, stand er noch ganz am Anfang. Ein Heiler hätte vielleicht Rückschlüsse aus einem Zucken in Aberians Gesicht ziehen können, und Seher fielen winzige Kleinigkeiten auf, die andere völlig übersahen.
„Ich habe Rhaawaan vertraut wie sonst niemandem“, unterstrich Aberian seine bisherigen Worte. Er streckte die Hand aus, das Buch wurde Gorian entrissen, und während es durch die Luft schwebte, verbrannte es zu Asche. „Es gehörte ohnehin zu den verbotenen Schriften und darf auf keinen Fall in die Hände des Feindes fallen, sollte er die Burg erobern“, erklärte Aberian sein Handeln.
Dann machte er einen Schritt auf Gorian zu, streckte erneut die Hand aus, so als wollte er den Schüler berühren. Gorian spürte die starke magische Kraft, die sich in Aberian sammelte, und dies, ohne dass seine Augen schwarz wurden. Er war offenbar in der Lage, dieses äußere Zeichen innerer Sammlung zu unterdrücken.
Gorian wich zurück und hob abwehrend das Schwert. Die Spitze war auf Aberian gerichtet, woraufhin die drei weiteren, dem jungen Schüler bisher unbekannten Schattenmeister sofort wieder die Hände an die Griffe ihrer Klingen legten.
„Nein“, erkannte Gorian mit absoluter Klarheit. „Ihr seid ein Lügner!“
„Dein Geist ist verwirrt. Enttäusche die Hoffnungen nicht, die der Orden in dich setzt!“
„Ihr seid der Verräter und habt den Bannstein-Zauber aufgehoben“, war Gorian jedoch überzeugt. „Die Gelegenheit hattet Ihr dazu – und das Wissen und die nötige magische Kraft auch!“
„Das ist Unsinn, Gorian!“
„Meister Rhaawaan war es, der Euch auf die Schliche kam. Ich weiß, dass ein guter Seher zu erkennen vermag, wessen Finger einen Gegenstand berührten. Er muss schon länger einen Verdacht gehegt haben, und vielleicht beobachtete er genau wie ich Eure allzu häufigen Schattenpfadgänge in den Norden. Und dann fand er das Buch, welches Ihr gerade praktischerweise vernichtet habt. Die Asche wird man keinem noch so guten Seher mehr zur Prüfung vorlegen können. Ihr seid zurückgekehrt und habt Meister Rhaawaan umgebracht!“
„Morygor manipuliert mit seinen finsteren Mächten deine Gedanken“, behauptete Aberian.
„Nein, die waren nie so klar wie in diesem Moment.“ Gorian spürte die Unsicherheit seines Gegenübers. Auch wenn dieser sich viel besser abzuschirmen vermochte als die meisten anderen Ordensmeister, so konnte Gorian doch die Schwankungen seiner Aura erkennen. Die äußere Fassade des Hochmeisters konnte ihn nicht täuschen, innerlich war Aberian extrem aufgewühlt.
„Was hat Morygor Euch versprochen, Aberian? Meister Damaraan hat mir davon erzählt, welche Angebote er jenen unterbreitet, von deren Diensten er sich einen Vorteil verspricht. Ewiges Leben? Erkenntnis? Macht? Oder alles zusammen? Oder hat er Euch eingeredet, dass ohnehin alles verloren ist, weil der Verlauf der Schicksalslinien bereits feststeht?“
„Wenn es so wäre, warum hätte ich dich dann am Leben lassen sollen?“, fragte Aberian. „Schließlich weißt du selbst, dass sich Morygor nichts sehnlicher wünscht als deinen Tod.“
„Ja, aber es ist für ihn nicht gleichgültig, wann, wo und durch wen ich sterbe“, entgegnete Gorian. „Eure Hand ist es offenbar nicht, durch die ich den Tod finden soll.“
In diesem Moment bemerkte Gorian eine Bewegung. Einer der drei anderen Schattenmeister riss einen Dolch unter dem dunklen Umhang hervor und schleuderte ihn mit einem Kraftschrei.
Gorian stieß ebenfalls einen Kraftschrei aus und wehrte den Dolch blitzartig mit dem Schwert ab, sodass er Aberian in die Brust fuhr.
Der Hochmeister hatte bereits sein Schwert zum Schlag erhoben. Nun taumelte er zurück. Funken sprühten aus dem Dolch in seiner Brust, und Gorian spürte die flackernde Schwäche von Aberians Kraft. Der Dolch war mit einem Gift getränkt, das die Magie schwächte.
Gorian wich dem Schwertstreich eines der drei Schattenmeister aus, parierte und schlug ihm den Kopf ab, während er gleichzeitig den Rächer aus der Gürtelscheide riss und einem der anderen beiden Schattenmeister damit den Hals durchbohrte. Dieser begann sich in schwarzen Rauch aufzulösen, um über die Schattenpfade zu fliehen, und als er seine Substanz verlor, klirrte der Rächer blutverschmiert zu Boden. Die winzigen kleinen Teilchen, zu denen der Schattenmeister zerfiel, drangen durch die Wand. Aber seine Kraft reichte nicht mehr, sich gänzlich in jene Zwischenwelt zu begeben, in denen die Schattenpfade existierten. Auf der anderen Seite der Mauer, außerhalb der Burg, verstofflichte er wieder und fiel mit einem Schrei in die Tiefe, wo er mit einem dumpfen Laut aufschlug.
Der dritte Schattenmeister kam nicht mehr dazu, Gorian anzugreifen, denn etwas wie ein Stein flog durch eines der verglasten Fenster.
Es war Ar-Don!
Der Gargoyle riss den Schattenmeister zu Boden und zerfetzte ihm mit seinen Klauen die Kehle. Das Blut spritzte bis zur Decke, während sich der Schattenmeister noch aufzulösen versuchte, was ihm nur zum Teil gelang. Dann starb er, und als seine Bewegungen für immer erschlafften, war sein Körper unterhalb des Rippenbogens nur noch feiner schwarzer Staub.
Ar-Don blickte mit blutverschmiertem Maul auf und sah Gorian an.
„Den Letzten ... töte ... selbst!“, erreichte Gorian ein Gedanke, und es war klar, dass damit der in seiner magischen Kraft geschwächte Hochmeister gemeint war. Gorian streckte die Rechte aus, ließ den blutverschmierten Rächer in seine Hand fliegen.
„Du verfluchter Narr!“, röchelte Aberian. Seine Worte waren kaum zu verstehen, der dazugehörige, bedrängend intensive Gedanke aber sehr wohl. Und offenbar war die Magie in ihm noch immer stark genug, dass ihn der vergiftete Dolch in seinem Körper nicht vollständig lähmte, denn er veränderte seine Gestalt, sein Gesicht nahm tierhafte Züge an, die Hände wurden zu Pranken.
Er riss sich den vergifteten und noch immer blitzumflorten Dolch aus dem Körper, schleuderte ihn nach Gorian, der diesen Angriff gerade noch rechtzeitig vorausahnte und sich ducken konnte. Der Dolch zerfetzte zischend einen ledergebundenen Folianten in einem der Regale.
Aberian hob sein Schwert, aber Gorian riss es dem geschwächten Schattenmeister mit der Alten Kraft aus der Hand. Die Waffe prallte gegen die Tür.
„Töte ... selbst!“, meldete sich noch einmal Ar-Don mit einem schon beinahe schmerzhaft bedrängenden Gedanken. „Töte ... Morygors ... Schergen ... oder wieder ich?“
„Nein!“, widersprach Gorian laut.
„Dann du ...“
„Er muss mir Fragen beantworten!“
„Du