»Nun, wie sieht es aus?« wollte sie von Kay wissen.
Ihr Bruder war gerade dabei, seine Hände zu bürsten, und sie tat es ihm nach.
»Ein Autounfall. Es hat die Kleine ganz schön erwischt. Soweit ich eine genaue Diagnose erstellen konnte, liegt ein Milzriß vor. Es ist alles schon vorbereitet, wir können gleich beginnen.«
Während Dr. Martina Dirksen-Andergast die Anästhesieapparatur überwachte, übernahmen Hanna und Dr. Dornbach die Assistenz Kays. Dr. Olegra kontrollierte die Blutplasmaübertragung, da das zehnjährige Mädchen sehr viel Blut verloren hatte. Die Operationsschwestern und Hilfsschwestern hatten ebenfalls alle Hände voll zu tun, um einen reibungslosen Ablauf der Operation zu gewährleisten.
Wie immer konnte Kay sich blind auf sein eingespieltes Team verlassen.
Nach fast drei Stunden war es endlich geschafft. Die kleine Patientin wurde auf die Intensivabteilung gebracht, und die anderen konnten aufatmend den Operationssaal verlassen.
»Welche Chancen räumst du der Kleinen ein?« fragte Hanna, als sie nebeneinander am Waschtisch standen, um sich zu reinigen.
»Wenn keine Komplikationen eintreten, recht gute. Zum Glück war es nur ein Anriß. Wenn der große Blutverlust erst einmal ausgeglichen ist, wird, so hoffe ich wenigstens, alles gutgehen.«
»Sind Angehörige mitgekommen?«
»Ja, die Mutter des Kindes ist hier. Schwester Dorte hat sie ins kleine Wartezimmer gebracht. Ich werde gleich mit ihr reden.«
»Gut, dann werde ich jetzt mit Schwester Elli die Visite durchführen. Anschließend habe ich noch eine Besprechung mit Dr. Andergast.«
»Gut, Hanna, dann wollen wir mal.«
Als sie auf den Gang hinauskamen, sahen sie Martin Schriewers. »Was gibt es, Martin?« fragte Hanna lächelnd. »Sagen Sie bloß, schon wieder ein Notfall?«
»Nein, Hanna, dieses Mal nicht. Aber da wartet schon mehr als eineinhalb Stunden eine Frau mit ihrem Jungen auf Sie, Kay. Sie möchte Sie gern persönlich sprechen. Eine Frau van Enken.«
»Sie wartet schon über eineinhalb Stunden, sagen Sie?«
»Ja, und gerade hat sie mich gebeten, einmal nachzuschauen, wie lange es noch dauern kann.«
»Danke, Martin, ich kenne Frau van Enken und werde mich gleich um sie kümmern. Bitten Sie sie doch mit ihrem Jungen schon in mein Sprechzimmer.«
»Ich werde es ausrichten.«
Martin Schriewers wandte sich um und ging zur Empfangshalle zurück.
Kay sah Hanna bittend an und sagte:
»Würdest du es bitte übernehmen, mit der Mutter des frischoperierten Mädchens zu reden? Ich bin doch unruhig, daß Madlon gekommen ist, um…«
»Das geht schon in Ordnung«, unterbrach Hanna ihn. »Selbstverständlich übernehme ich das. Ich möchte aber deine Madlon auch gern kennenlernen. Du weißt ja, daß ich, wie alle Frauen, sehr neugierig bin.«
»Das glaub ich dir gern, Hanna. Aber noch ist es nicht meine Madlon, wie du dich ausgedrückt hast.«
»Na ja, wie auch immer, kümmere du dich jetzt um sie und ihren Sohn. Sag mir nur noch, wie das kleine Mädchen heißt, damit ich weiß, wie ich die Mutter ansprechen soll.«
»Ina Giesing heißt die Kleine. Bitte, entschuldige, daß ich nicht eher daran gedacht habe. Wir sehen uns später.«
Mit diesen Worten verschwand Kay hinter der Tür zu seinem Sprechzimmer, und Hanna ging ein paar Türen weiter ebenfalls in einen Raum auf dessen Tür »Wartezimmer« stand.
Eine junge Frau sah ihr aus angsterfüllten Augen entgegen, und ihr Gesicht war vom Weinen gerötet.
»Wie geht es meiner kleinen Ina?« fragte sie sorgenvoll, und schon wieder traten Tränen in ihre Augen.
»Bitte, beruhigen Sie sich, Frau Giesing. Ihr kleines Mädchen hat die Operation gut überstanden.«
»Ist das wirklich wahr?«
»Ich pflege in solchen Situationen immer die Wahrheit zu sagen«, antwortete Hanna mit einem leichten verständnisvollen Lächeln.
»Wird sie am Leben bleiben?«
»Wenn keine Komplikationen eintreten, wird Ihre Tochter es schaffen. Die Kleine hat durch den Unfall sehr viel Blut verloren und ist deshalb auch geschwächt. Sie liegt jetzt auf der Intensivabteilung und steht unter ständiger Überwachung. Wie ist es überhaupt zu dem Unfall gekommen? Können Sie uns darüber etwas sagen?«
»Nein, ich weiß auch noch nichts Genaues, Frau Doktor, aber es passierte direkt vor unserem Haus. Eine Autofahrerin ist in diesen Unfall verwickelt. Es ging alles viel zu schnell, und ich war so geschockt, daß ich mich nur noch für meine Ina interessiert habe. Die Polizei wird sicher wissen, wie alles passiert ist.«
»Nun, es ist auch im Augenblick nicht ganz so wichtig, Frau Giesing.«
»Darf ich meine Ina sehen?«
»Davon möchte ich abraten, Frau Giesing. Die Operation war sehr schwierig, und es wird lange dauern, bis Ihre Kleine Sie überhaupt wieder richtig wahrnehmen wird.«
Als Hanna das enttäuschte Gesicht bemerkte, faßte sie tröstend nach dem Arm der besorgten Mutter.
»Na, kommen Sie, einen Blick auf Ihr Töchterchen werde ich Ihnen gestatten. Kommen Sie heute nachmittag wieder, dann kann ich Sie ein paar Minuten zu Ihrer Tochter lassen. Sie können uns vertrauen, daß wir alles für Ihr Mädel tun werden. Kommen Sie, ich bringe Sie hinüber, dann können Sie sich selbst davon überzeugen.«
»Ich darf mein Kind nicht auch noch verlieren, Frau Doktor«, sagte die Frau in dumpfer Verzweiflung. »Ina ist alles, was ich noch habe. Alles gäbe ich dafür her, daß sie mir erhalten bleibt. Ich habe erst vor gut einem Jahr meinen Mann verloren.«
»Oh, das tut mir leid, Frau Giesing, aber ich bin sehr zuversichtlich, daß Sie Ihr Mädchen behalten werden.«
Hanna brachte die junge Frau in den Vorraum der Intensivabteilung, von wo aus sie durch ein kleines Fenster auf ihre Tochter sehen konnte.
Voller Mitleid sah Hanna auf die Mutter, die ihren Blick nicht von der stillen Gestalt lösen konnte. Tränen liefen ihre Wangen hinunter, und Hanna war tief gerührt über dieses stille Leid.
»Es sieht im Moment durch die Schläuche schlimmer aus, als es in Wirklichkeit ist. Bitte, glauben Sie mir, daß all das nur der Überwachung gilt. Lassen Sie mir bitte noch Ihre Anschrift und die Telefonnummer hier, damit wir Sie notfalls verständigen können. Auch Sie können zu jeder Zeit hier bei uns anrufen, um sich nach dem Befinden Ihrer Tochter zu erkundigen. Kommen Sie jetzt, im Augenblick können Sie nichts für Ihre Tochter tun.«
Frau Giesing wandte sich ab, und sie wischte sich verstohlen die Tränen ab.
Behutsam führte Hanna die Mutter der kleinen Patientin aus der Intensivabteilung. Sie notierte sich noch deren Anschrift und Telefonnummer und erkundigte sich:
»Wie kommen Sie nach Haus, Frau Giesing? Kann ich Ihnen ein Taxi bestellen?«
»Danke, nein, Frau Dr. Martens, das ist sehr freundlich von Ihnen. Aber ich bin dem Unfallwagen mit meinem eigenen Auto gefolgt. Wann darf ich denn heute nachmittag wiederkommen?«
Hanna überlegte ein paar Sekunden und antwortete nach einem Blick auf ihre Uhr:
»Wir haben jetzt ungefähr zwölf Uhr. Sagen wir mal, so etwa um sechzehn Uhr.«
»Vielen Dank, Frau Doktor. Bis